Das kurze Glueck der Gegenwart
verstricken viele Linien und Nebenfiguren die beiden Schicksale bis in die Gegenwart.
Ein Faden des Romans verfolgt die Lebensgeschichte von Frimm und seiner alleinerziehenden Mutter Mary, die sich in Los Angeles unter anderem als Sortiererin bei der Post durchschlägt. Dort entwickelt sie den für die Struktur des Buchs zentralen Gedanken, dass alle Menschen der Welt »durch unsichtbare, dünne Bande verbunden« sind: »Versteht ihr? Nur fünf, sechs Briefe muss man schreiben, um jeden auf der Welt zu erreichen. Ich schreibe einem, den ich kenne, der einem schreibt, den er kennt, der einem schreibt, den er kennt …« Auf ähnliche Weise kreuzen sich auch in Magnussons Roman die Wege der Figuren.
Tatsächlich aber nähern sich beide Bücher, Magnussons und Zähringers, der Komplexität der Systeme per Allegorie. Das Geflecht des Romans taugt nicht zur Analyse tatsächlicher Zusammenhänge, sondern bildet als pars pro toto nur irgendeine Art von Komplexität ab. Tatsächlich kann die Erzählung aber nur gelingen, weil der Autor seine Welt selbst konstruiert und sie eben nicht nach der Wirklichkeit modelliert. Daran müsste er scheitern. Es kann keinen Analytiker geben, der in einer gottähnlichen Position die hunderttausend Einzelursachen für den globalen Börsencrash beschreiben könnte. Ein Tolstoi der Finanzkrise würde die Romanform sprengen. Realismus bedeutet daher nur noch, eine eigene Welt zu schaffen, die dann beschrieben werden kann, wie beispielsweise in Ingo Schulzes Mikrokosmos Altenburg aus »Simple Storys«, wo alles mit allem zusammenhängt. Das ist ein Trick, aber ein ziemlich guter.
Das weltliterarische Musterbeispiel für die Darstellung solcher komplexen Systeme im Roman ist William Gaddis’ Roman » J.R. « von 1975. Ein Dreizehnjähriger telefoniert sich von seinem Zimmer aus ein kleines Finanzimperium zusammen – eine Geschichte vom Typus Kerviel. Eigentlich ist das eine moderne Variante des Hochstaplerromans: ein Felix Krull für unsere anonyme und virtuelle Finanzwelt. An » J.R. « lässt sich dabei zugleich erkennen, dass die Wahl eines hochaktuellen Stoffes nicht mit einer Vernachlässigung der Erzählform einhergehen muss, im Gegenteil. Es geht nicht um die Abbildung einer bestimmten »Welt« wie im Gesellschaftsroman des neunzehnten Jahrhunderts; naiver Realismus ist nicht mehr die angemessene Art und Weise der Erfassung von Wirklichkeit. Gegenwärtigkeit ist nicht allein eine Frage des Gegenstands, des Settings. Denn für eine Darstellung und Analyse einer so komplexen Sphäre wie der Finanzwelt bedarf es eben auch neuer Erzählstrukturen, wie beispielsweise bei Gaddis des Protokolls von Telefongesprächen (in diesem Fall, als Besonderheit, nur der einen Seite, so dass sich ein Monolog ergibt). Vielleicht würde ein Roman der Gegenwart aus der Wiedergabe eines Mailverkehrs bestehen oder aus SMS -Protokollen. Aus der Forderung nach heißen, noch in der Gegenwart geschmiedeten Stoffen ergibt sich die Notwendigkeit von neuen Formen. Ein Roman, in dem Politiker die Hauptfiguren sind, ist noch lange kein politischer Roman, vielleicht noch nicht einmal unbedingt ein Roman über Politik. Genauso wie man die gegenwärtige Wirtschaftskrise nur sehr begrenzt versteht, wenn man sie nur auf die Gier und die Verantwortungslosigkeit einzelner Investmentbanker zurückführt, wird man sie auch nicht darstellen können, indem man eine Romanze aus der Chefetage erzählt.
Dennoch kann auch eine scheinbar simple Darstellung des Arbeitsalltags die Gegenwart exemplarisch durchdringen, wenn sie nur präzise genug ist und veranschaulicht, wie sich die ökonomischen Strukturen im Bewusstsein des Individuums niederschlagen. Die Nagelprobe für ein solches Erzählen ist die New-Economy-Blase der neunziger Jahre. 2001 erschien Rainer Merkels Debütroman »Das Jahr der Wunder«, der davon erzählt, wie es dem verkrachten Medizinstudenten Christian Schlier bei seiner Arbeit in der Multimedia-Agentur GFPD ergeht. Die Geschichte spielt Mitte der neunziger Jahre, als Agenturen wie Pixelpark oder Springer & Jacoby die Speerspitze des Fortschritts waren. Für ein paar goldene Jahre fielen wirtschaftliche und künstlerische Avantgarde zusammen. Eine ganze Akademikergeneration wurde von dem unstillbaren Durst der Branche nach »Kreativen« aufgesogen und verbraucht. Reguläre Ausbildungen schien diese neue Arbeitswelt nicht zu brauchen, in der die Hierarchien ebenso flach wie die Gehälter hoch waren und man mit den
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