Das Labor der Esper
dachte nicht mehr an das unerreichbare Ziel und akzeptierte die Beschränkungen, die ihm sein Körper auferlegte. Er begann wieder zu leben. Wenn er sich selbst nicht ändern konnte, so mußte er seine Umwelt verändern, damit seine Existenz so bequem wie möglich wurde. Der erste Schritt war die Flucht aus der düsteren Einzimmerwohnung, die seit seiner Geburt seine Welt darstellte. Sein suchendes Gehirn wollte auf Reisen, wollte Neues aufnehmen.
Hier spielte das Geld eine Rolle. Als Brotverdienerin des kleinen Haushalts hatte Rosa sehr begrenzte Fähigkeiten. Nach Viktors Geburt schien sie völlig das Interesse an ihrem Aussehen verloren zu haben und ließ das bißchen Anziehungskraft, das sie besaß, ganz verkommen. Wenn man ehrlich war, hatte sie nie mehr als ihre Jugend anzubieten gehabt, und als Viktor zehn Jahre alt war, wirkte sie so fett und ungepflegt, daß sie in ihrem Beruf nichts mehr verdienen konnte. Sie mußte eine Stelle als Putzfrau in einem Büro annehmen, um für sich und das Kind sorgen zu können.
Viktor suchte nach irgendeiner Möglichkeit, wie er dieses Leben verbessern konnte. Ihm war klar, daß er zwar die treibende Kraft darstellte, daß die Verhandlungen mit der Außenwelt jedoch über Rosa laufen mußten. Aber selbst als Marionette gab es gewisse Grenzen für sie. Da war ihr primitiver Verstand. Sie reagierte auf viele seiner Befehle äußerst plump. Heimarbeit wie Schneidern war unmöglich, und aus dem Haus wollte er sie nicht lassen, um die Kontrolle über sie nicht zu verlieren. Er brauchte eine Arbeit für sie, bei der er auch seine Talente einsetzen konnte.
Die Lösung, die ihm schließlich einfiel, war halb Zufall und halb Inspiration. Wie so viele Menschen in ärmlichen Verhältnissen und mit begrenzter Intelligenz war Rosa eine glühende Anhängerin der Astrologie. Sie wollte unbedingt wissen, was die Zukunft für sie bereit hatte. Sie griff jedes noch so leere Versprechen auf, das ein Ende ihres augenblicklichen Elends bedeuten konnte. Sie las in jeder Zeitung das Horoskop, und die Ankunft irgendeiner Zigeunerin, die die Zukunft verkündete, übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus.
Eines Tages, als das längst erwartete Abendessen immer noch nicht kam, suchten Viktors Gedanken nach ihr, und er entdeckte sie bei einer solchen Wahrsagerin. Er wollte sie schon an ihre Pflichten mahnen, doch dann zögerte er, als er merkte, wie verzückt sie diesen halben Versprechungen und den glatten Verallgemeinerungen lauschte. Dann verlagerte er seine Aufmerksamkeit auf die Zigeunerin und durchforschte ihre Gedanken. Wie er vermutet hatte, besaß sie als Hellseherin keinerlei Begabung. Sie wußte von der Zukunft ebensowenig wie jeder andere. Ihre Horoskope beruhten auf einer scharfen Menschenkenntnis und sonst nichts.
Viktor erkannte sofort, daß er mit seinen Talenten weit besser für diesen Beruf geeignet war als irgend jemand sonst, der sich auf seine Beobachtungsgabe und Intuition verließ. Er konnte in das Gehirn der Kunden eindringen und die nötigen Informationen hervorholen. Aber zuerst mußte er Rosa umformen. Es war jetzt egal, daß sie fett und scheußlich wirkte. Wichtig war nur, daß sie ihr dumpfes Dahinleben aufgab und eine neue Zielstrebigkeit erlangte.
Viktor stellte die seit langem bestehende telehypnotische Bindung zu ihr her und begann, ihr vorsichtig seine Vorschläge zu unterbreiten. Rosa wußte nichts davon, sondern glaubte, daß sie ganz plötzlich ein hellseherisches Talent entwickelt habe. Es wäre ihm durchaus möglich gewesen, sie einfach zu dirigieren, aber Viktor fand, daß die Illusion vollkommener war, wenn sie selbst an ihre Gabe glaubte.
Rosa erwies sich als überraschend gute Schülerin und begann bald die Methoden zu imitieren, mit denen man sie früher hinters Licht geführt hatte. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie in der Nachbarschaft den Ruf als Seherin, und die Leute suchten sie auf und fragten sie um Rat. Die Fehler, die sie anfangs machte, waren hauptsächlich Viktors Schuld. Wenn er die Gehirne der Leute durchforschte, zerrte er oft Dinge ans Licht, die besser verborgen geblieben wären. In einem Fall fand er die Erinnerung an einen Mord, in einem anderen die unbewußte, aber begründete Furcht vor Krebs. Er merkte, daß mit der Wahrheit kein Geschäft zu machen war. Die Leute kamen zu Madam Rosa, wie man sie jetzt nannte, um sich Trost und Ermutigung zu holen.
Er ließ Rosa weiterhin in dem Glauben, daß der größte Teil ihrer
Weitere Kostenlose Bücher