Das Labor der Esper
hellseherischen Fähigkeiten ihrer plötzlich entwickelten Gabe zuzuschreiben war. Das zahlte sich aus, denn zum erstenmal im Leben hatte Rosa etwas, worauf sie stolz sein konnte. Sie gewann eine ganz neue Selbstachtung. Viktor nützte diese Veränderung in ihr aus und bereitete die zweite Stufe seines Planes vor. Rosa mußte sich von dem Rattenloch lösen, in dem sie nun schon so lange hausten.
Im Sommer seines fünfzehnten Lebensjahres tauchte Madam Rosa in den Seebädern der Ostküste auf. Und nach einer Saison, in der sie den reichen Urlaubern das Geld aus der Tasche gezogen hatte, mußte sie nicht mehr in ihren Londoner Slum zurückkehren. Rosa kaufte von einem Teil des Geldes einen Wohnwagen und einen Landrover. Obwohl sie nie zuvor einen Wagen gesteuert hatte, schaffte sie es mit Viktors Unterstützung. Im darauffolgenden Winter fuhren sie kreuz und quer durch das Land, wie sie es noch nie getan hatten, und immer, wenn das Geld knapp wurde, ging Rosa ihrem neuen Beruf nach. Dieses Nomadenleben führten sie die nächsten zehn Jahre. Viktor fand es weit lohnender als ihre Existenz im East End. Er konnte ständig neue Gehirne durchforschen, seine unstillbare Neugier verschlang neue Erfahrungen und neues Wissen und ging von einem Thema zum nächsten. Aber bald genügte ihm die Rolle des passiven Zuschauers nicht mehr, und er empfand das überwältigende Bedürfnis, sich davon zu befreien.
16
Viktors erste Experimente mit der direkten Beherrschung eines Gehirns und Körpers begannen gegen Ende des zweiten Sommers, als sie wieder die Küstenorte aufsuchten. Er teilte die Erlebnisse mit Johnny, einem blonden, gutaussehenden jungen Mann. Johnny war Ingenieurstudent, aber während der Ferien vergaß er sein Studium und wurde zu einem unkomplizierten, gedankenlosen Naturkind, zu einem Strandbummler. Viktor hatte sich während der vergangenen Wochen Hunderte Male in Johnnys Gedanken eingeschaltet und kannte allmählich die Reaktionen des jungen, braungebrannten Körpers wie seine eigenen. Das kränkliche, verkrüppelte Ding, das im Wohnwagen lag, war vergessen, wenn er »teilnahm«. Er war Johnny, der am Strand mit den anderen jungen Leuten umhertollte. Diese perfekte Beziehung verleitete ihn dazu, aus seiner Beobachterrolle herauszugehen und die Kontrolle über Johnnys Körper zu übernehmen. Der Junge schien die Einmischung gar nicht zu merken. Schließlich war er ein impulsives Geschöpf, und er fand nichts Seltsames dabei, wenn er plötzlich Lust bekam, in reiner, animalischer Freude durch den Sand zu laufen oder ein Mädchen an sich zu drücken, um ihren fast nackten Körper an seinem zu spüren.
Diese und ähnliche Erfahrungen hatten eine tiefe Wirkung auf Viktor. Sie eröffneten ihm die Möglichkeit zu einer neuen Art von Freiheit und versprachen ihm direkte Teilnahme an herrlichen Erlebnissen. Er wollte diese Dinge nicht kampflos aufgeben. Die Sommer-Saison näherte sich ihrem Ende, und Viktor wußte, daß Johnny bald zu seinem Studium zurückkehren würde. Er fand, daß er die Trennung in diesem Augenblick nicht gestatten konnte. Johnny war ein wesentlicher Faktor in seinem Leben geworden. Bis jetzt war ihr Verhältnis einseitig, denn Johnny hatte keine Ahnung von Viktors Existenz, aber Viktor fand, daß nun die Zeit für ein vollkommenes Verständnis gekommen war. Er glaubte, daß er durch dieses Verständnis so etwas wie eine echte Symbiose erreichen konnte.
Besessen von diesem Traum, pflanzte Viktor in Johnnys Gehirn den unwiderstehlichen Drang, sich dem Wohnwagen zu nähern, der abseits in einer Ecke des Strand-Parkplatzes stand. Als der Junge sein zielloses Umherschlendern aufgegeben hatte und direkt auf den Wohnwagen zukam, unterbrach Viktor absichtlich den telepathischen Kontakt mit ihm. Irgendwie fand er, daß es unfair war, wenn er bei der persönlichen Gegenüberstellung den Vorteil auf seiner Seite hatte.
Es würde wie das erste Zusammentreffen zweier vorherbestimmter Brautleute sein. Er hatte wenige menschliche Wesen von Angesicht zu Angesicht gesehen. Meist scheute er den Kontakt, weil er sich seiner furchtbaren Häßlichkeit bewußt war, aber diesmal war es etwas anderes. Im Augenblick des Zusammentreffens würde er vollkommen mit Johnnys Gedanken verschmelzen. Es würde keine Schranken zwischen ihnen geben. In diesem erhabenen Moment des Verstehens würde Johnny ihn ganz akzeptieren – und von da an würde jeder ein Teil des anderen sein.
Zitternd vor freudiger Erregung kämpfte
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