Das Labor der Esper
Powell, Sie müssen einsehen, daß man uns Telepathen bald zum Sündenbock für die ganze Welt machen würde.«
Als Powell in das ruhige Gesicht des Mädchens sah, mußte er zugeben, daß ihre Einschätzung der menschlichen Reaktion zwar erschreckend war, der Wahrheit aber sehr nahe kam. Sobald die Existenz von Telepathen allgemein bekannt wurde, betrachtete man sie automatisch als andersartig. Und in der Vergangenheit hatte sich oft genug herausgestellt, daß »Andersartigkeit« ein Grund zur Verfolgung war. Dreckiger Telepath, schnüffelt in den Gedanken anständiger Leute … Kann man sich ja denken, wie er zu der Stelle gekommen ist – für seinesgleichen ist Erpressung ein Kinderspiel … Wie will man mit einem Telepathen konkurrieren? Der kennt ja jeden Schachzug schon im voraus. Man sollte ihnen das Handwerk legen … Die Regierung muß etwas unternehmen, bevor sie das Land beherrschen … Powell konnte sich jetzt schon die Klischees vorstellen. Durch die allgemeine Anschauung, daß jeder, der entgegen dem Strom lief, gefährlich war, wurden solche Klischees bereitwillig aufgenommen. Sie waren eine Entschuldigung für das eigene Versagen, für die eigene Unzufriedenheit, und sie gaben den Leuten das Gefühl, eine Einheit gegen die Außenseiter zu bilden, seien sie Juden, Freimaurer, Katholiken, Neger – oder Telepathen.
Sollte er seine eigene Einstellung zur Telepathie noch einmal eingehend überprüfen? Konnte es sein, daß tief in seinem Unterbewußtsein die Bildung einer Spionagegruppe aus Telepathen nur der Vorwand für etwas anderes war? Nein! Er konnte es nicht glauben. Und das Mädchen glaubte es auch nicht. Sonst wäre sie nicht freiwillig hergekommen und hätte die Sicherheit der Anonymität aufgegeben, um ihm ihre Dienste anzubieten. Ihre Dienste als was? Wenn es eine Gruppe von organisierten Telepathen gab, dann wäre es nur natürlich, wenn sie einen der Ihren in sein Projekt einschmuggeln würden, um es in Zukunft zu sabotieren. Wie konnte er als Nicht-Telepath ihre wahren Motive kennen?
Er brach die Gedankenkette abrupt ab, stand auf und wandte sich von ihr ab. Das Mädchen hatte natürlich recht – es gab Fallstricke in dieser Situation. Jede Verbindung von Telepathen und Nicht-Telepathen enthielt die gefährliche Saat des Mißtrauens, die Anfänge des Wahnsinns … Niemand hat gern das Gefühl, von einem anderen gegängelt zu werden. Wenn man wußte, daß so etwas geschehen konnte, dann würde es nur eine unvermeidliche Reaktion geben. Und doch, wenn das alles so unvermeidlich war, weshalb kam dann das Mädchen und stellte sich freiwillig? Er wandte sich ihr zu und sprach die Frage endlich laut aus.
»Sie müssen gewußt haben, daß es gefährlich für Sie war, hierherzukommen. Weshalb haben Sie es getan?«
»Weil man das Problem anschneiden muß. Wenn man es in diesem frühen Stadium löst und einen Modus vivendi zwischen Telepathen und Nicht-Telepathen schafft, kann man viel Leid abwenden. Meine Aktion kann unserer Sache dienen.«
»Ihrer Sache?«
Sie runzelte die Stirn. »Nicht sehr treffend ausgedrückt, muß ich zugeben. Das Wir kann kaum als Ganzheit angesehen werden. Eigentlich spreche ich nur für mich, wenn ich sage, daß wir lediglich in Frieden leben wollen. Wenn wir gleichzeitig etwas Positives für die Gemeinschaft beitragen können, ist das eine zusätzliche Hilfe zur Verständigung.«
»Und Sie glauben, daß Zusammenarbeit bei der Bildung einer Spionageabteilung der erste Schritt sein könnte?« fragte Powell.
»Ich hoffe es«, sagte sie. Ihr blasses, von dunklem Haar eingerahmtes Gesicht blieb ernst.
»Dann bin ich Ihnen dankbar für Ihre Hilfe, Miß Fitzgerald«, sagte er. Er stand von seinem Schreibtisch auf und ging auf sie zu. Er war irgendwie erleichtert, weil er auch in Telepathen gewisse Grenzen erkannt hatte. Sicher hätte das Mädchen wissen müssen, daß es leicht war, für den Spionagedienst zu arbeiten, weil es sich um geheime Operationen handelte. Die schwierige Zeit kam erst, wenn die Sicherheitsmaßnahmen gelockert wurden und das Volk von ihrer Existenz erfuhr.
»Dann werden wir Freunde brauchen«, sagte sie einfach, als sie ihm die Hand reichte.
19
»Nun – was sagen Sie?« fragte Powell, sobald sich die Tür hinter Becky Schofield und Miß Fitzgerald geschlossen hatte.
Havenlake zuckte vielsagend die Schultern. Er wußte noch nicht, was er von Powells plötzlichem Auftauchen und von dem merkwürdigen Mädchen halten sollte, aber er
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