Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
Vom Netzwerk:
Nicht um zu beten, damit hatte ich nichts am Hut, der Herr in Seiner großen Güte möge mir verzeihen. Ich wollte nur das große, bunte Fenster betrachten, ganz hinten im Chor. Ich fand, dass es wunderschöne Farben hatte und wirklich vertrackte Muster. Und deshalb beschloss ich, Kirchenfenstermacher zu werden.
    Als ich das bei der Berufsberatung gesagt habe, hat man mir geantwortet, das wäre kein Beruf, Kirchenfenstermacher. Kein Beruf?! Verdammt, was wollten die denn, diese Idioten? Das war der schönste Beruf der Welt! Stattdessen schlug man mir vor, als Lehrling in einer Glaserei anzufangen. Ich habe sie alle zum Teufel geschickt und gesagt, Gläser herstellen würde mich nicht die Bohne interessieren. Warum nicht gleich unkaputtbares Geschirr?
    Es war nur ein Wort, ein einziges, das man mir hätte verklickern müssen, verstehen Sie? Aber an dem Tag hat mir kein Mensch erklärt, dass man erst Glaser lernen muss, um Kirchenfenster zu bauen.
    Wie auch immer, während ich vor dem Wohnwagen die Tomaten und Zwiebeln für meinen Salat klein schnippelte, habe ich über mich nachgedacht, aber nicht wirklich so, als ob ich es selbst wäre. Eher als wäre ich irgendein kleinerJunge, den ich auf der Straße getroffen hätte, der Sohn der Nachbarn, ein Neffe. Irgendein Rotzlöffel, der nicht viel Glück hatte im Leben. Ein armer Bengel, ohne Vater und letztlich auch fast ohne Mutter, weil meine oder keine …
    Ich habe mich plötzlich von außen gesehen, das war ein komisches Gefühl. Ich habe mich gefragt: Verflixt, Germain, wozu machst du die Sachen?
    Damit meinte ich die Sachen im Allgemeinen: die Tauben zählen, rennen, ohne Luft zu holen, Karten spielen, mit meinem Taschenmesser an Holzstückchen rumschnitzen. Ich fragte mich das in einem ganz ernsthaften Ton, man hätte meinen können, ich wäre jemand anders. Die Stimme des Herrn zum Beispiel, mit Verlaub und besten Grüßen an Ihn da oben. Germain, wozu machst du die Sachen? Das wirbelte in meinem Kopf herum. Wozu, wozu, Germain? Wozu?
    Ich glaube, an diesem Abend hatte ich eine Art Intelligenzanfall. Vielleicht hatte ich schon früher ein paar davon. Als ich klein war. Aber damals hat man mich sicher sofort dagegen behandelt: »Geh spielen, zieh ab, nerv uns nicht mit deinen Fragen!«
    Wenn du unter einer Glasglocke aufgezogen wirst, kannst du keine großen Höhenflüge machen.

 
    A ls ich Margueritte zum dritten Mal getroffen habe, war ich vor ihr da. Ich hielt die Bank besetzt und machte ein böses Gesicht, wenn eine Mutter mit ihrer Rasselbande oder ein Alter am Stock in meine Nähe kam. Ich wollte die Leute mit meiner finsteren Miene abschrecken, damit sie weitergingen und anderswo ihr Lager aufschlugen.
    Das war unsere Bank, Marguerittes und meine, Punkt. Am komischsten war, dass ich tatsächlich auf sie wartete, auf meine kleine Tauben-Oma. Und als ich sie ganz am Ende der Allee auftauchen sah, auf ihren mageren Beinchen, mit ihrem geblümten Kleid, ihrer grauen Strickjacke und ihrer Tasche am Arm, ist mir ganz warm ums Herz geworden. Genau wie bei einem fünfzehnjährigen Bengel und seiner Flamme.
    Na ja, nicht genau so. Aber Sie verstehen schon.
    Sie hat mir mit den Fingerspitzen zugewinkt, da musste ich fast lachen. Wenn ich beschreiben müsste, was da zwischen uns ist, würde ich sagen: gute Laune, von Anfang an. Wir haben uns miteinander sofort wohlgefühlt. Glücklich.
    Sie hat ihre Tasche abgestellt, sich hingesetzt und dabei alle Rockfalten schön um sich herumdrapiert: »Monsieur Chazes, was für eine nette Überraschung!«
    »Wissen Sie, Sie können ruhig Germain zu mir sagen.«
    Da hat sie gelächelt. »Wirklich? Das will ich mit dem größten Vergnügen tun, Germain, glauben Sie mir. Aber ichwerde es mir nur erlauben, wenn Sie Ihrerseits bereit sind, mich Margueritte zu nennen.«
    »Na ja, wenn Sie Wert drauf legen … Warum nicht?«
    »Ich lege den allergrößten Wert darauf.«
    »Na dann, also gut.«
    »Haben Sie heute schon unsere Vögel gezählt?«
    Sie sagte »unsere Vögel«, und es kam mir nicht mal komisch vor. »Ich hab damit auf Sie gewartet.«
    Und das Schlimmste war, dass das stimmte.
    Sie runzelte die Stirn, als ob sie über wichtige Dinge nachdenken würde. »Gut. Aber sagen Sie, Germain, wie wollen wir dabei vorgehen? Soll ich anfangen, und Sie zählen anschließend? Oder tun wir es laut gemeinsam? Oder möchten Sie lieber, dass wir leise zählen und dann unsere Ergebnisse vergleichen?«
    »Jeder für sich im Kopf«, habe ich

Weitere Kostenlose Bücher