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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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gesagt.
    »Ja, Sie haben recht. So laufen wir nicht Gefahr, einander zu stören oder uns gegenseitig zu beeinflussen. Sie haben eine wissenschaftliche Ader, Germain. Das gefällt mir.«
    Und da sie sich nicht über mich lustig machte, war ich sogar etwas stolz, was nicht oft vorkommt.
    Wir haben sechzehn gezählt. Ich stellte ihr Rüpel, Kleine Graue, Filzlauser und zwei, drei andere vor, die sie noch nicht kannte. »Filzlauser« ließ sie mich wiederholen, das Wort kannte sie nicht.
    »Filzlauser. Wie die Filzläuse.«
    »Sie meinen … ähm … die Läuse im Schamhaarbereich?«
    Sie schien etwas von der Rolle zu sein.
    »Ja, genau. Aber so nennt man doch auch Kinder – Lausebengel, Lauser, Filzlauser … Wussten Sie das nicht?«
    »Gütiger Gott, nein. Ich merke, dass ich noch nicht ausgelernt habe mit Ihnen … Aber warum nennt man Kinder denn so?«
    »Na, weil sie klein sind, sich an einem festklammern und ziemlich nerven! Wenn man erst mal welche hat, wird man sie nicht mehr los, verstehen Sie?«
    »Ach so … natürlich, ja! Daher der Vergleich mit der Phtiriasis.«
    »Genau. Wie dieses … Dingsda, was Sie gerade meinten.« Ich war mir nicht ganz sicher, aber egal.
    Sie lachte. »Nun, dank Ihnen ist das heute kein verlorener Tag. Ich habe etwas dazugelernt!«
    »Ach, nicht der Rede wert. Man muss sich ja helfen.«
    Eine Weile saß sie nur da, ohne was zu sagen. Dann, auf einmal, als würde es ihr siedend heiß einfallen: »Ach, fast hätte ich es vergessen …« Sie zog ein Buch aus ihrer Tasche. »Wissen Sie, Germain, dass ich gestern Abend an Sie gedacht habe, als ich noch einmal in diesem Roman las?«
    »An mich? « Das haute mich um.
    »An Sie, jawohl. An Sie und die Tauben. Ganz plötzlich, bei einem bestimmten Satz … Ich muss ihn unbedingt für Sie wiederfinden, warten Sie … Wo war er noch gleich? Ach, hier. Hören Sie: Wie soll man auch das Bild einer Stadt ohne Tauben, ohne Bäume und Gärten vermitteln, wo einem weder Flügelschlagen noch Blätterrauschen begegnen, mit einem Wort, einen neutralen Ort? «
    Sie hörte auf zu lesen und sah mich an, stolz wie sonst was, als hätte sie mir gerade ein wunderbares Geschenk gemacht. Aber ich war ganz eingeschüchtert, ich bekomme nämlich nicht oft einen Satz geschenkt. Und es denkt auch nicht oft jemand beim Romanelesen an mich. »Könnten Sie das noch mal lesen? Nicht zu schnell, falls das möglich ist …«
    »Natürlich … Wie soll man auch das Bild einer Stadt ohne Tauben, ohne Bäume und Gärten vermitteln … «
    »Steht das so in dem Buch?«
    »Ja.«
    »Das ist gut gesagt. Das ist echt wahr! Eine Stadt ohne Bäume und ohne Vögel … Wie heißt denn das Buch?«
    » Die Pest . Und der Autor heißt Albert Camus.«
    »Mein Großvater hieß auch Albert … Die Pest , das ist ein komischer Titel. Worum geht es denn da?«
    »Ich kann es Ihnen leihen, wenn Sie wollen.«
    »Ach, wissen Sie … Lesen ist nicht so mein Ding …«
    Sie klappte das Buch wieder zu und sah aus, als würde sie zögern. Dann fragte sie: »Möchten Sie vielleicht, dass ich Ihnen einige Auszüge daraus vorlese? Ich lese sehr gern vor, aber ich habe nicht oft Gelegenheit dazu. Wissen Sie, wenn ich hier allein auf meiner Bank laut lesen würde, würden sich die Leute bald Sorgen um meine geistige Verfassung machen.«
    »Das stimmt! Ich will Sie nicht beleidigen, aber da würde man Sie sicher für eine übergeschnappte alte Oma halten …«
    Sie lachte laut los. »Eine übergeschnappte alte Oma, genau! Das ist ein hübscher Ausdruck, wenn man jemanden für eine arme Irre hält, nicht wahr? Nun ja, wie auch immer … Wenn Sie also einverstanden wären, könnte ich Ihnen einige ausgewählte Passagen vorlesen. Sie würden mir als Alibi dienen, verstehen Sie? Aber ich möchte Sie nicht langweilen … Ich werde Ihnen selbstverständlich nur dann vorlesen, wenn Sie Lust dazu haben. Seien Sie also ehrlich: Würde es Ihnen Spaß machen?«
    Ich habe ja gesagt. »Spaß« war vielleicht nicht ganz das richtige Wort, aber auf den ersten Blick war es eine Perspektive – siehe: Aussicht, Möglichkeit  –, die mir nicht allzu nervtötend vorkam.
    Manchmal höre ich mir im Radio Geschichten an, Hörspiele, während ich mit meinem Taschenmesser schnitze. Es hält die Ohren wirklich gut auf Trab.

 
    M argueritte hat mit ihrer ruhigen, leisen Stimme angefangen zu lesen. Und dann – vielleicht war es die Geschichte, die sie mitriss, keine Ahnung – wurde sie immer lauter,

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