Das Labyrinth der Wörter
Andererseits hatte ich auch nicht vor, meine Tage auf Parkbänken zu verbringen und mir Geschichten vorlesen zu lassen, als wäreich ein kleines Kind. Abgesehen davon, dass Kinderbücher selten mit toten Ratten vollgestopft sind.
Ich habe geantwortet: »Warum nicht? Ich habe nichts dagegen, bei Gelegenheit.«
Das war eine Art, ja zu sagen, ohne gleich übertrieben begeistert zu wirken.
Wir haben uns verabschiedet, ohne uns für einen bestimmten Tag wieder zu verabreden.
Ich habe sie ein Stück begleitet, die Allee entlang. Sie hat den Ausgang zum Boulevard de la Libération genommen. Ich gehe lieber über die Avenue des Lices, das ist kürzer. Jedenfalls dahin, wo ich hinwill.
Das ist relativ.
U nterwegs dachte ich an die Geschichte, die sie mir gerade vorgelesen hatte. Neben den Ratten gab es noch andere Stellen, die mir gut gefielen. Zum Beispiel die Sache mit dem Nachbarn, der sich umbringen will und mit Kreide auf seine Tür schreibt: Herein, ich habe mich aufgehängt.
Herein, ich habe mich aufgehängt ! Das ist doch der Hammer, oder? Was der wohl im Hirn haben musste, dieser Camus, um sich solchen Wahnsinn auszudenken!
Obwohl das Leben manchmal … Ich erinnere mich, dass sich unser Nachbar, als ich klein war, mit der Flinte in den Kopf geschossen hat. Lombard hieß er. Und weil er Angst hatte, dass seine Kinder ihn finden würden, wenn sie aus der Schule kämen, hatte er auch einen Zettel an die Haustür gehängt: Bin einkaufen . Und damit ihr Hund nicht weglief, hat er ihn mit sich im Haus eingeschlossen. Es war ein großer, böser, braungrauer Köter, eine Mischung aus Schäferhund und Deutscher Dogge. Als die Kinder aus der Schule kamen, haben sie die Nachricht von ihrem Vater gelesen, und dann haben sie den Köter von innen an der Tür kratzen hören. Sie wollten ihn rauslassen, aber es war abgeschlossen, und da hat der Junge zu seiner Schwester gesagt, sie soll sich nicht von der Stelle rühren und warten. Dann ist er ums Haus herumgegangen und von hinten durch ein Fenster eingestiegen. Er ist nicht wieder rausgekommen. Als die Mutter von ihrer Arbeit zurückkam und den Zettel gesehenhat und die Kleine, die ganz allein vor der Tür saß, ohne den Großen, da hat sie sich gesagt, hier stimmt was nicht, irgendwas ist faul.
Sie hat ihre Tochter zu uns rübergebracht und meine Mutter gebeten, auf sie aufzupassen. Ich weiß noch, dass mich das genervt hat, weil die Kleine die ganze Zeit nur geheult hat.
Zuerst haben wir nichts gehört. Dann das Schreien der Nachbarin. Und danach die Sirene der Feuerwehr. Und dann die der Polizei. Ich bin rausgegangen, um zu gucken, aber ich habe nicht viel gesehen, außer ein paar Leuten auf dem Rasen, die um eine zugedeckte Trage herum standen.
Später hat Madame Lombard meiner Mutter erzählt, dass sie ins Haus gekommen ist und ihren Jungen in der Küche gefunden hat. Er stand stocksteif vor der Leiche seines Vaters, der wirklich kein schöner Anblick war. Und der Hund hatte angeblich eine bis zu den Ohren mit Blut verschmierte Schnauze. Er hatte den Boden sauber gemacht, alles schön abgeleckt. Auch den Schädel von seinem Herrchen, wo er schon mal dabei war. Nicht die kleinste Spur von Blut war mehr da, kein Knochensplitter oder Hirnspritzer. Einwandfrei sah es aus. Blitzblank geputzt.
Er musste dann eingeschläfert werden, der Hund.
Die Frau ist danach völlig durchgeknallt. Jedes Mal, wenn sie auf der Straße einen Hund sah, versteckte sie ihre Kinder unter ihren Röcken und schrie: »Kommt her! Schnell! Schneeell! «, auf die Gefahr hin, dass sie sich in die Hose machten vor Schreck.
Dabei hatte der Kleine sowieso schon einen Knacks – kein Wunder bei so einer Geschichte.
Wenn der Vater einfach geschrieben hätte: Herein, ich habe mich erschossen , so wie bei Albert Camus, wäre dem Kleinen wenigstens die Überraschung erspart geblieben.
Man kann nicht immer an alles denken.
M argueritte hat mir Die Pest in ein paar Tagen fertig vorgelesen. Nicht alles natürlich. Teile daraus. Und ich muss sagen, im Großen und Ganzen fand ich es richtig gut. Mit total schrägen Figuren, man fragt sich, wo Camus die aufgegabelt hat. Der Typ namens Grand zum Beispiel, der ein Buch schreiben will, aber immer wieder nur den gleichen Satz hinkritzelt, abgesehen von zwei, drei geänderten Wörtern. Das hat mich an Shining erinnert, Sie wissen schon, diesen Film mit Jack Nicholson. Wo er auf seiner alten Schreibmaschine immer wieder dasselbe tippt, Hunderte von
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