Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
Vom Netzwerk:
und wenn mehrere Figuren vorkamen, änderte sie ihren Ton.
    Wenn du hörst, wie gut sie das macht, kannst du dir noch so viel Mühe geben, lustlos und gelangweilt zu sein: Du sitzt einfach in der Falle. Ich war beim ersten Mal jedenfalls echt platt.
    Die ersten zwei, drei Seiten im Buch übersprang sie und erklärte: »Wenn Sie nichts dagegen haben, steigen wir direkt in die Handlung ein.« Sie fügte hinzu: »Einleitungen fand ich schon immer etwas langweilig … Also! Nur ein paar Anhaltspunkte vorab: Die Geschichte findet in Algerien statt, in Oran …«
    Wenn sie nur »in Oran« gesagt hätte, dann hätte ich so tun müssen, als ob ich wüsste, wo das ist. Algerien aber war klar: Youss hat es mir mal auf der Karte gezeigt, weil seine Eltern da geboren sind.
    Aber sie wollte sowieso nicht mein Erdkundewissen überprüfen. Sie fing einfach an zu lesen, ganz ruhig, ohne mich irgendwas zu fragen: » Am Morgen des 16. April trat Doktor Bernard Rieux aus seiner Praxis und stolperte mitten auf dem Treppenabsatz über eine tote Ratte. Vorerst schob er das Tier beiseite, ohne es zu beachten, und ging die Treppe hinunter. Aber auf der Straße kam ihm der Gedanke, dass diese Ratte … «
    Sie hatte kaum angefangen, da wusste ich schon, dass mir die Sache gefallen würde. Mir war noch nicht ganz klar, was das für eine Sorte Buch war, ob eher Horror oder Krimi, aber fest stand, dass sie mich volle Kanne erwischt hatte.
    Ich sah sie vor mir, die krepierte Ratte. Ich sah sie!
    Und auch die andere, die über den Flur kriecht und blutspuckend abkratzt. Und etwas später dann die Frau vom Doktor, die krank im Bett liegt.
    » Etwa um diese Zeit jedenfalls fingen unsere Mitbürger an, sich zu beunruhigen. Ab dem 18. nämlich spien die Fabriken und Lagerhäuser tatsächlich Hunderte von Rattenkadavern aus. In einigen Fällen war man gezwungen, die Tiere, deren Todeskampf zu lange dauerte, totzuschlagen. «
    Verdammt, was für eine Seuche! Ich stellte mir die verreckten Viecher vor, die die ganze Stadt überschwemmten und in allen Ecken rumlagen. Es war wie im Kino, nur dass es ganz für mich allein stattfand, in meinem Kopf. Wir saßen mitten im Park, Margueritte und ich, gemütlich im Schatten der Linde. Und um uns herum, wenn ich die Augen schloss oder einfach nur meiner Phantasie freien Lauf ließ, war da ein Riesenhaufen von Rattenleichen, ganz aufgebläht und stinkend, mit steif abstehenden Pfoten. Und andere, die überall rumquiekten und mit ihren nackten rosa Schwänzen um sich schlugen.
    » Aus den Verschlägen, den Untergeschossen, den Kellern, der Kanalisation kamen sie in langen, taumelnden Reihen, um ans Tageslicht zu wanken, sich um sich selbst zu drehen und in der Nähe der Menschen zu sterben. «
    Puh, grässlich, dieses Ungeziefer! Der bloße Gedanke daran machte mir Gänsehaut. Wenn es Viecher gibt, diemich so richtig anekeln, dann Ratten. Ratten und Kakerlaken. Kakerlaken sind auch widerlich.
    Margueritte las ein paar Seiten, übersprang eine Passage und setzte etwas später wieder ein. Ich gab keinen Mucks von mir. Ich fragte mich nur, ob der Rattenbekämpfungsdienst der Stadt am Ende mit dieser Scheiße fertigwerden würde oder nicht. Wenn man nämlich weiß, wie die in den Rathäusern arbeiten … In unserem jedenfalls. Vielleicht ist es in Oran anders. Wenn ja, dann haben sie Glück. Ich will niemanden anschwärzen, aber wenn die Sache hier passieren würde, dann würden uns die Ratten fertigmachen. Und in dem Buch wurde dann auch noch der Hauswart krank und bekam Lymphknoten, die aus seinem Hals rausbeulten. Lymphknoten kenne ich, weil ich mir mal was Blödes eingefangen und sie dann gut gespürt habe, die Lymphknoten in der Leiste. Zumal der Weißkittel auch noch fest draufgedrückt hat, der Mistkerl.
    Als Margueritte aufhörte zu lesen, wollte ich am liebsten, dass sie weitermacht. Aber da wir uns noch nicht so gut kannten, habe ich mich nicht getraut, sie darum zu bitten. Ich habe nur gesagt: »Interessant, Ihr Buch.«
    Sie hat kurz genickt, um zu sagen, dass sie einverstanden war. »Ja, Camus war mit Sicherheit ein großer Autor.«
    »Sein Vorname war Albert, nicht? Albert Camus?«
    »Ganz recht. Haben Sie noch nie etwas von ihm gelesen? Der Fremde ? Der Fall ?«
    »Äh … ich glaube nicht. Kann mich jedenfalls nicht erinnern.«
    »Wenn es Ihnen gefallen hat, könnten wir die Lektüre in den nächsten Tagen wieder aufnehmen, was denken Sie?«
    Ich dachte, das wäre okay, lieber jetzt als gleich.

Weitere Kostenlose Bücher