Das Labyrinth der Wörter
losgeworden.
Es musste einfach raus.
Ich habe gedacht, was soll’s, ich packe aus. Und dann habe ich ihr alles hingeknallt, das Lesen, das mir eine Qual ist, die Wörter, die ich nicht schreiben kann, diesen Dreckskerl von Monsieur Bayle und den ganzen Rest.
Ich habe gedacht: Mal sehen, was passiert.
Sie hat mich ganz kleinlaut angeschaut.
Ich konnte gar nicht mehr aufhören und redete immer weiter, ließ alles raus, was ich nie jemandem erzählen konnte, was mir aber wie lauter Gräten im Hals stecken geblieben war. Die Leute, die einen – vor allem mich – immer für einen Trottel halten, wenn man nicht gut lesen kann. Die alles durcheinanderschmeißen und denken, dass Bildung die Höflichkeit ersetzt. Die einen von oben herab behandeln, sobald sie merken, dass man nur drei Wörter auf Lager hat, weil sie selbst reden können wieein Buch. Aber wenn man nur ein bisschen daran kratzt, was sie erzählen, ist darunter alles so hohl, dass es kracht! Und so schimpfte ich immer weiter und weiter, und viel zu laut.
Dabei hörte ich die Stimme in meinem Kopf, die rief: Halt die Klappe, Germain! Siehst du denn nicht, dass die arme kleine Alte gleich ausflippt? Aber ich konnte mich einfach nicht mehr bremsen, es kam in einem Riesenschwall raus, was sich da angestaut hatte, die Ungerechtigkeit und alles. Und das Schlimmste war: Wenn ich mich so hörte, machte mich das noch mehr fertig. Mein Leben in Worte zu fassen, das war, wie Salz auf Wunden zu streuen. In mir drin war nichts als ein wüstes Durcheinander, die Bilder rasten nur so rum, und dazu die innere Stimme, die den Herrn in Seiner großen Güte anflehte, mich zu knebeln, damit ich endlich die Klappe hielt. Und dann kam auch der ganze Rest raus, die Mädchen, die Arbeit, meine ganzen Kinderträume. Und meine Mutter, als krönender Abschluss.
Am Ende habe ich noch hinzugefügt, dass ihr Wörterbuch nicht vollständig war, weil Nachtschattengewächse okay, aber Roma !
Na, wie auch immer.
Margueritte hat tief Luft geholt, so als ob ich ihren Kopf unter Wasser gehalten hätte. »Germain, es tut mir sehr leid.«
Das hat den Druck mit einem Schlag von mir abfallen lassen. »Aber warum denn?«
»Beim Zuhören ist mir klargeworden, dass Sie völlig recht haben: Wenn man die Schreibweise eines Wortes nicht kennt oder die Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet, dann ist das Wörterbuch ein vollkommen unbrauchbares Instrument.«
»Und unvollständig dazu … nichts für ungut.«
»Ja, auch in diesem Punkt kann ich Ihnen nicht widersprechen. Erst vor zwei Tagen habe ich das Wort Filzlauser gesucht. Stellen Sie sich vor, es steht nicht drin!«
»Das wundert mich nicht. Und ich warne Sie: Es ist nicht das einzige Wort, das fehlt!«
»Sicher, sicher … Gleichzeitig muss man aber zugeben, dass ein Wörterbuch es erlaubt, viele Dinge zu lernen.«
»Kann ja sein, aber wenn ich es nicht benutzen kann …«
»Gewiss, das ist misslich. Was können wir da tun?«
Sie hat angefangen nachzudenken, wobei ihre Hände und ihr Kopf etwas zitterten. Auch ich zermarterte mir das Hirn, weil sie wir gesagt hatte und mich das freute.
Schließlich meinte ich: »Wenn man wüsste, wie sich das Wort schreibt, das man sucht, wäre es schon einfacher: Dann bräuchte man nur noch da nachzuschauen, wo es steht …«
»Genau!«
»Wenn ich zum Beispiel ein Wort finden will, was weiß ich … Labyrinth etwa! Ich sage das auf gut Glück …«
»… Und das Glück macht es einem nicht immer leicht … Ach, die Sprache ist wirklich etwas Kompliziertes! Ausgerechnet das Wort Labyrinth steckt voller Fallen. Ich will es Ihnen zeigen …«
Und schon kramte sie in ihrer Tasche rum, holte einen Kuli hervor und suchte weiter. »Haben Sie vielleicht ein Notizbuch dabei?«
»Äh, nein.«
»Ein kleines Stück Papier?«
»Ich habe hier meinen Einkaufszettel, wenn das reicht.«
»Das wird reichen, Germain, das wird reichen.«
Margueritte hat mir das Wort aufgeschrieben, den Kopf etwas zur Seite geneigt, mit ihrer Tasche als Unterlage. Siehatte eine große, etwas zittrige Schrift, aber für ihr Alter nicht zu verschnörkelt. Dann hat sie mir den Zettel hingehalten. »Bitte sehr.«
La-by-rinth ?
Verdammter Mist! Da hätte ich ja ewig suchen können!
E in paar Tage später ging ich durch die Avenue du Général de Gaulle, und da sah ich, dass die Fassade der neuen Mediathek mit Graffiti vollgesprayt war, die komplette Längsseite. Natürlich redeten wir bei Francine darüber. Marco
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