Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
Vom Netzwerk:
Mutter mir nie irgendwas geschenkt hat, erwarte ich auch von meinen Geburtstagen nicht viel. Wenn ich mich so umschaue, sehe ich bloß Annette, die mir was schenken könnte, unter dem Vorwand, dass sie mich liebt.
    Weil ich dasaß, ohne ein Wort zu sagen, hat Margueritte mich gefragt: »Wollen Sie denn nicht wissen, was es ist?«
    »Doch, natürlich!«
    Als ich es in die Hand nahm, habe ich gleich gewusst, dass es ein Buch war. Mist. Ich habe es trotzdem aufgemacht und dabei versucht, interessiert dreinzuschauen, denn einem geschenkten Gaul … Aber es war noch viel schlimmer als ein Buch: Es war ein Wörterbuch!
    Ach du Scheiße, habe ich gedacht. Was soll ich denn damit?
    Ich habe mich bei Margueritte bedankt. Aber ehrlich gesagt, es fiel mir ziemlich schwer.
    Und sie, mit ihrem Gesicht, als hätte sie einen guten Aprilscherz gelandet: »Nun, ich stelle mit Erleichterung fest, dass Sie sich freuen! Ich hatte nämlich Angst, mich zu täuschen, indem ich es Ihnen schenkte.«
    »Ähm … Eine Superidee! Ich brauchte sowieso gerade ein neues.«
    »Ach ja? War Ihres abgelaufen?« Sie begann plötzlich zu lachen.
    Ich mag es gern, wenn sie lacht. Gleichzeitig ist es beunruhigend. Ich habe immer Angst, dass ihr die Luft wegbleibt. So alte Leute lachen erst los, dann husten sie wie ein Dieselmotor, verschlucken sich und kratzen plötzlich ab. Um sich kaputtzulachen, braucht man Übung, sonst ist es gefährlich.
    Andererseits, es gibt schlimmere Arten zu sterben.
    »Germain, wissen Sie, wozu Wörterbücher wirklich gut sind?«
    Ich hätte gern geantwortet: »Um einen wackligen Tisch abzustützen«, aber ich habe gesagt: »Um schwierige Wörter zu verstehen.«
    »Auch, ja … Aber nicht nur. Sie dienen vor allem dazu, zu reisen.«
    »…?«
    »Stellen Sie sich vor, Sie suchen ein Wort, ja? Ein Wort, das Sie ›schwierig‹ finden, zum Beispiel.«
    Das war nicht schwer vorzustellen.
    »Gut. Sie haben es also gefunden, und da sehen Sie neben seiner Definition den Buchstaben S. , gefolgt von einem oder mehreren anderen Wörtern. Dieses S. bedeutet ›Siehe‹, aber es könnte auch ›Suche nach neuen Welten‹ heißen. Es wird Sie zwingen, weiterzublättern, nach neuen Hauptwörtern, Eigenschaftswörtern oder Tätigkeitswörtern zu suchen, die Sie ihrerseits weiter auf die Reise schicken werden, hinter anderen Wörtern her …«
    Sie war plötzlich ganz aufgeregt. Die Alten amüsieren sich anders als wir, das schwöre ich Ihnen.
    Und ich meinte: »Ja, ja, klar, wem sagen Sie das?«, und schaute auf meine Fußspitzen.
    »Ein Wörterbuch ist nicht einfach nur ein Buch, Germain. Es ist viel mehr als das. Es ist ein Labyrinth … Ein großartiges Labyrinth, in dem man sich voller Glück verirrt!«
    Ich kenne mich mit Labyrinthen nicht sonderlich gut aus – abgesehen von dem Labyrinth im Schloss des Todes , das sie auf dem Rummel zu Sankt Johanni aufbauen, zwischen der Geisterbahn und der Achterbahn, aber wenn es das war, verstand ich den Zusammenhang mit ihrem Wörterbuch nicht so richtig, und auch nicht die Sache mit dem Glück.
    Deshalb habe ich nur genickt und »Mh-hm« gesagt, nichts weiter.
    Sie hat noch ein bisschen rumgesponnen, dann hat sie sich wieder beruhigt, und wir konnten endlich über andere Sachen reden, vor allem über ihre Studien der Traubenkerne, die so was wie kleine Schachteln sind, bestehend aus dem Integument, das ein Endosperm und einen Embryo umschließt .
    Was ein Embryo ist, weiß ich von den Hühnereiern und den Babys her, und das erinnerte mich plötzlich wieder an Annette. Ich werde doch noch hingehen und ihr eins machen, es hilft ja nichts.
    Das Endosperm dagegen hat mich an gar nichts erinnert.
    Ich meinte zu Margueritte, mit Traubenkernen könnte man zum Beispiel Traubenkernöl machen.
    Sie sagte: »Aber ja, das ist völlig richtig!« Und die Kerne würden noch weitere Substanzen enthalten, unter anderem Tannin – noch ein Wort, das ich sehr gut kenne, vom Wein her. Der enthält nämlich mehr oder weniger viel davon.
    Schon komisch: Man glaubt, man redet von ganz wissenschaftlichen Dingen, aber eigentlich befindet man sich auf altbekanntem Boden.

 
    A ls Margueritte aufgestanden ist, um zu gehen, habe ich sie bis zum Kiosk begleitet und bin dann abgebogen, um nach Hause zu laufen, auf direktem Weg, ohne in Francines Kneipe vorbeizuschauen. Ich konnte mir nicht vorstellen, da mit einem Wörterbuch in der Hand aufzukreuzen. In meinem Milieu sind Bücher nicht besonders angesagt. Ein paar

Weitere Kostenlose Bücher