Das Labyrinth der Wörter
Auch irgendwie lehrreich, in Bezug auf unsere Gespräche. Und Stück für Stück habe ich sie dann lieb gewonnen, sozusagen schleichend.
Zuneigung ist etwas, das im Verborgenen wächst. Sie schlägt einfach Wurzeln und wuchert dann schlimmer als Quecken. Wenn es erst mal so weit ist, ist alles zu spät: Das Herz kann man schließlich nicht mit Unkrautfrei behandeln, um die Zärtlichkeit darin auszurotten.
In der ersten Zeit war ich einfach nur froh, sie zu sehen, wenn ich in den Park kam.
Etwas später war es so, dass ich mich, wenn ich sie nicht auf unserer Bank fand, fragte, was sie wohl machte, statt mit mir zusammen zu sein.
Noch später, als wir über kulturelle Dinge redeten, dachte ich immer wieder über unsere Gespräche nach.
Während sie vorlas, blieb ich manchmal an einem Wort hängen und machte dann ein kleines Zeichen mit der Hand, etwa bei Prestige oder exorbitant oder lasziv … Dann erklärte sie das Wort oder schrieb es mir in ein kleines Heft, das sie extra für diesen Zweck gekauft hatte. Das hatte sich zwischen uns so eingebürgert, und wenn ich abends nach Hause kam, suchte ich als Erstes nach dem Wort.
»Exorbitant – siehe: teuer, übertrieben, unerschwinglich …«
Sie hatte mir sogar Merkzettel gemacht und das ganze Alphabet in der richtigen Reihenfolge draufgeschrieben, in großen Buchstaben auf weißen Blättern. Und dann noch mal jeden Buchstaben zusammen mit den jeweils folgenden im Alphabet, an zweiter und sogar dritter Stelle.
Ab, ac, ad …
Aba, abc, abd …
Sie muss wahnsinnig viel Zeit damit zugebracht haben, aber es war verdammt hilfreich, weil es ja nicht reicht, zu wissen, wo das U ist, wenn man im Wörterbuch umtopfen sucht. Man muss auch wissen, dass umtopfen nach umtauschen und vor Umtrunk kommt.
Ich hatte mir das Ganze über das Bett gehängt, und vor dem Einschlafen las ich laut das ganze Alphabet, A, B, C, D … Und dann suchte ich mir Beispiele aus dem Alltagsleben, um es mir besser zu merken. A wie Annette, B wie Bengel, C wie CD, D wie Dauerwurst usw.
Margueritte nahm immer mehr Raum ein, auch wenn sie nicht da war.
Und dann, eines Tages, als sie mal nicht im Park war – man geht ja schließlich nicht jeden Tag hin –, ist mir plötzlich klargeworden: Ich weiß überhaupt nichts über sie, nur den Vornamen, auf den sie getauft ist. Auch wenn man mich gefoltert hätte, ich hätte der Polizei nicht mal ihren vollständigen Namen sagen können.
Da habe ich kapiert: Wenn ihr was Schlimmes passieren würde, ein Herzanfall zum Beispiel, dann würde niemand kommen, um es mir zu sagen, ich habe ja keinerlei Legitimation – siehe: Berechtigung, Beglaubigung . Und so würde ich es gar nicht erfahren, sie würde ganz allein in ihrer Ecke sterben, und ich würde sie nicht mal mehr sehen. Das hat mir einen verdammten Schrecken eingejagt, wie bei einem Kind, das im Kaufhaus verlorengegangen ist. Ich habe versucht, mir gut zuzureden: »Jetzt hör aber mal auf, Germain, es ist doch nur eine kleine Alte …« Aber ich konnte machen, was ich wollte, es ist mir den ganzen Tag weiter im Kopf rumgegangen. Weshalb ich sie beim nächsten Mal, als ich sie gesehen habe, sofort mit der Frage überfallen habe, wo sie eigentlich wohnt.
»Im Altenheim Les Peupliers , seit bald zwei Jahren. Das ist ganz in der Nähe des Rathauses. Direkt gegenüber der Esplanade, wissen Sie?«
»Ja ja, das kenne ich.«
Das kann man wohl sagen – ich war da Hilfsarbeiter, als sie den ersten Stock renoviert haben, vor vier oder fünf Jahren. Ich kann Ihnen sogar verraten, dass die von Glück sagen können, wenn den Alten nicht eines schönen Morgens die Decke auf den Kopf kracht, weil sie nämlich beim Umbau nicht so genau verstanden haben, wozu tragende Wände gut sind. Es hält, okay, aber man muss das schnell aussprechen, sonst stimmt es vielleicht schon nicht mehr. Wenn wir eines Tages ein Erdbeben kriegen, dann garantiere ich für nichts, was die Zahl der Toten angeht … Aber das habe ich ihr natürlich nicht gesagt. Ich habe es schön für mich behalten.
»Es ist ein sehr angenehmes Haus«, hat Margueritte hinzugefügt, »ich bedaure meine Entscheidung nicht. Das Personal ist jederzeit ansprechbar und ganz reizend.«
Wenn man weiß, was die für Preise haben, wäre es auch noch schöner, wenn sie dann unfreundlich wären.
»Und wie heißen Sie mit Nachnamen?«, habe ich dann Knall auf Fall gefragt.
»Escoffier, warum?«
Ich konnte ihr schlecht antworten: Falls ich Sie eines
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