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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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mit beiden Füßen auf den Boden reicht, ist man groß genug, nicht wahr?«
    Gleich darauf hätte ich mir in den Hintern beißen können, denn ihre Beine baumelten ja in der Luft. Sie hat nicht das Erwachsenenformat für Parkbänke.
    Sie ist meinem Blick gefolgt. Dann hat sie mit den Schultern gezuckt und gelacht. »Fangen wir an?«
    »Okay!«
    Und sie begann: » Der Himmel war ein aufgeblähter Eselsbauch, der bedrohlich nur wenige Handbreit über den Köpfen hing. «
    »Das ist eine Metapher«, habe ich gesagt.
    »Ja, ganz richtig!«
    Das hat mich gefreut.
    Dann hat sie weitergelesen.
    Ich sag Ihnen was: Ich wusste nicht, dass ich Geschichten so mag.
    Die Pest hatte mir gut gefallen, weil es mich an diese Peripetie – siehe: unvorhergesehenes Ereignis, Wendepunkt  – von meinem Nachbarn erinnerte, dem sein Hund den Kopf abgeleckt hatte, und man kann machen, was man will: An Kindheitserinnerungen hängt man immer ein bisschen. Außerdem hatte mich die Vorstellung von den wimmelnden Ratten und alldem beeindruckt. Das andere Buch von dem Autor, den seine Mutter zu sehr liebte und umgekehrt und der Quellen und Brunnen suchte, ohne sie je zu finden, weil das Leben seine Versprechen nicht hält, das war auch nicht schlecht, nur vielleicht etwas lang.
    Aber dieser Alte, der Liebesromane las , Mannomann! Die Geschichte packte mich und ließ mich nicht wieder los, noch nicht mal, als eine scharfe Braut mit hüpfenden Brüsten vorbeijoggte.
    Ich hing so fest wie eine Zecke an einem Hund.
    Erst mal gefiel es mir, dass das Buch so schön kurz war. Außerdem konnte ich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, weil ich eine Menge interessante Sachen über die Jíbaro-Indianer lernte, die auch Shuara heißen, was dasselbe ist. Zum Beispiel schleifen sie sich die Zähne spitz und haben nie Karies, und das ist ihr Glück, weil die Urwaldzahnärzte, das sind echte Metzger! Da muss man nur den Buchanfang lesen, wo die ganzen armen Kerle aus dem Dorf kommen, um sich von Doktor Loachamín zurichten zu lassen, diesem Schweinehund, der ihnen laut fluchend die restlichen Zahnstummel rausreißt, bevor er ihnen gebrauchte Gebissprothesen andreht, die nicht mal passen, wie Margueritte vorlas:
    »Also, mal sehen. Wie passt die hier?«
    »Die drückt. Ich kann den Mund nicht zumachen.«
    »Scheiße! Was für empfindliche Kerle ihr doch seid. Dann probier eine andere.«
    »Die sitzt zu locker. Die fällt mir raus, wenn ich niese.«
    »Was musst du dich auch erkälten, du Idiot. Mach den Mund auf.«
    Ich sah alles vor mir, als ob ich dabei gewesen wäre. Das war noch stärker als bei Albert Camus. Es kribbelte mir in den Füßen, so sehr erinnerte es mich an unseren Zahnarzt, als ich klein war, Doktor Tercelin, der mir kräftig auf den Kopf schlug, wenn ich mich bewegte, weil er mir wehgetan hatte.
    » Manchmal verscheuchte ein Patient mit seinem Geheul die Vögel und schlug die Zangen mit der einen Hand fort und führte die andere zum Griff der Machete. «
    Ich an seiner Stelle hätte zugeschlagen, mit der Machete! Dieser Doktor Tercelin war ein echter Dreckskerl. Er brüllte alle Kinder an, die allein in die Sprechstunde kamen, aber wenn die Mütter dabei waren, war er honigsüß. Meine lieferte mich natürlich immer ab wie einen Sack Kartoffeln und ging dann einkaufen, weil der Äthergeruch ihr angeblich den Magen umdrehte. Wenn die Quälerei vorbei war, ging ich vor die Tür, um auf sie zu warten, mit meinem entzündeten Zahnfleisch und dem modrigen Nelkengeschmack im Mund. Verdammt, da hätte ich wirklich gern einen Brunnen gehabt!
    An all das erinnerte ich mich, während ich Margueritte zuhörte. Ich dachte: Ist doch verrückt, was so ein Buch aus der Vergangenheit hochkommen lässt!
    Margueritte las mir alles vor, ohne irgendwas auszusparen.
    »Benimm dich wie ein Mann, du Schlappschwanz. Ich weiß, dass es wehtut, und ich hab dir auch gesagt, wessen Schuld das ist. Was drohst du mir also? Sitz still und zeig, dass du keine Memme bist.«
    Nur zu hören, wie sie »Schlappschwanz« sagte, war die Sache schon wert.
    Aber deshalb traute ich mich auch nicht, sie zu fragen, wenn ich so eine Stelle gern noch mal vorgelesen bekommen hätte. Also sperrte ich die Ohren weit auf und strengte mich an, alles zu behalten.
    Die Jíbaros sind nicht auf den Kopf gefallen, das kann ich Ihnen sagen. Wenn sie jagen gehen, schwärzen sie ihre Macheten, damit die Affen sie nicht entdecken, falls sich die Sonne darin spiegelt – vielleicht sollte ich

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