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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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das mit meinem Taschenmesser auch machen. Und sie haben da zehn Meter lange Schlangen, dicker als mein Oberschenkel, und Welse, die siebzig Kilo wiegen. So ein Teil werde ich nicht so bald aus unserem Teich fischen!
    Dabei würde es mir gut gefallen, stolz wie ein Jíbaro mit einem 70-Kilo-Wels in Francines Kneipe aufzukreuzen. Marco, der Landesmeister im Wettangeln in stehenden Gewässern ist, würde der Schlag treffen.
    Marco ist sehr nett, aber wenn es um seinen Stolz geht, hat er überhaupt keinen Humor.
    Ich habe auch gelernt, dass Amazonien im Grunde ein Scheißland ist. Es regnet wie aus Kübeln, es ist voller Matsch, Schlamm und Skorpione, überhaupt nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte, und das ist wirklich eine Desillusion – siehe: Enttäuschung, Ernüchterung . Die andere Desillusion ist, dass sich die Shuara-Paare nie auf den Mund küssen. Kein Zungenkuss, kein Küsschen, gar nichts.
    Wenn sie dagegen Liebe machen – ich sage jetzt »Liebe machen« –, setzen sich die Frauen auf den Mann, weil sie finden, dass sie in dieser Stellung die Liebe stärker genießen , was mir, ohne mich über mein Intimleben ausbreiten zu wollen, auch nicht missfallen würde.
    Jedenfalls glaube ich, dass ich dieses Buch in meinemLeben noch ein paar Mal lesen werde, wenn der Herr so gnädig ist, mich mit grauem Star und Alzheimer zu verschonen, das liegt ja in Seiner Hand, ich habe Ihm nichts vorzuschreiben.
    Wie auch immer, jetzt, wo ich mehr darüber weiß – dank Monsieur Sepúlveda –, sehe ich, dass Jíbaro-Werden doch keine so gute Idee war. Das Buch, das mein Onkel mir geschenkt hatte, erzählte das alles gar nicht, aber es war ja auch im Trödel, bestimmt deswegen.
    Margueritte hat mir ihr Buch dann wieder gegeben, nachdem sie es fertig vorgelesen hatte, eine gute Woche hatten wir dafür gebraucht.
    Und sie hat gesagt: »Germain, ich fürchte, ich werde Ihnen nicht mehr lange Bücher vorlesen können …«
    »Warum? Ist es Ihnen langweilig?«
    »Nein, überhaupt nicht! Es ist eine wahre Freude. Es ist nur so, dass ich nicht mehr sonderlich gut sehe …«
    »Ist es der graue Star?« (Weil ich gerade aus persönlichen Gründen daran gedacht hatte.)
    »Nein, leider nicht. Es ist etwas Schlimmeres.«
    »Ein Glaukom?«, habe ich gefragt, weil meine Mutter eins hat – neben all dem anderen Mist, den ich erben muss.
    »Auch nicht. Es ist eine Krankheit, die man nicht behandeln kann. Man nennt sie altersbedingte Makula-Degeneration. Ein etwas aufgeblasener Name, finden Sie nicht?«
    »Und ziemlich kompliziert. Wie macht sie sich denn bemerkbar?«
    »Mit einem Fleck genau in der Mitte des Auges, der schon anfängt, mich am Lesen zu hindern. Bald wird alles, was sich vor mir befindet, grau sein. Ich werde nur noch sehen, was an den Rändern ist.«
    »Scheiße!«, habe ich gesagt. Und gleich danach: »Entschuldigung!«
    »Oh, ich bitte Sie – entschuldigen Sie sich nicht. Ich denke, in gewissen Fällen kann man es sich durchaus gestatten, ›Scheiße‹ zu sagen.«
    »Aber jetzt sehen Sie mich noch? Hier?«
    »Ja, natürlich. Nur irgendwann, in einiger Zeit, werde ich Sie nicht mehr genau erkennen. Ich werde keine Gesichter mehr sehen, nicht mehr lesen, nähen oder Tauben zählen können.«
    Es fühlte sich merkwürdig an, wie sie das sagte. Vor allem, weil sie kein Drama draus machte und es ganz ruhig erklärte.
    Ich habe mir gesagt, dass das wirklich eine gottverdammte Scheißkrankheit ist … Der Herr möge mir verzeihen, aber Ihm haben wir das ja zu verdanken.
    Margueritte meinte noch: »Was mir vor allem fehlen wird, ist das Lesen.«
    »Mir auch«, habe ich geantwortet.
    Und das, verstehen Sie … ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal denken würde. Geschweige denn sagen.

 
    A ls ich nach Hause gegangen bin, steckte diese Neuigkeit so fest in meinem Kopf wie eine Schraube in einem Stück Balsaholz. Margueritte, die nicht mehr richtig sah. All die Bücher, die sie nicht mehr lesen konnte. Die sie mir nicht mehr vorlesen konnte. Ich hörte wieder diese Stimme in meinem Kopf, die immer ihren Senf dazugibt, wenn was nicht so läuft, wie ich will. Aber diesmal schimpfte sie nicht. Sie war so wie ich, ganz geknickt, und sie sagte: Germain, sieh zu, wie du das geregelt kriegst, aber du musst der kleinen Alten irgendwie helfen!
    »Ach ja? Was soll ich denn tun? Mal kurz die Scheibenwischer einschalten, damit sie wieder klare Sicht bekommt? Verdammt, was kann ich dafür, wenn ihre Augen

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