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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Tages aus den Trümmern rausholen und identifizieren muss. Deshalb habe ich gesagt: »Einfach so. Ich wollte das nur mal wissen.«
    Daraufhin sind wieder die Pferde mit ihr durchgegangen, »der Wissensdrang, die unersättliche Neugierde des Menschen« und so weiter und so fort. Ich habe sie einfach reden lassen, sie ist froh, wenn sie quatschen kann. Mich kostet es nicht viel, so zu tun, als ob ich zuhöre, man ist ja kein Unmensch. Danach hat sie mir von ihrem Leben im Altenheim erzählt, den Scrabble- und Lottoabenden, den Museumsbesuchen, lauter todlangweiligem Zeug.
    Es war, als ob Margueritte meine Gedanken gelesen hätte, weil sie plötzlich geseufzt hat: »Altwerden ist für niemanden ein Vergnügen, wissen Sie …« Und dann hat sie mit ihrem kleinen Lachen hinzugefügt: »Nun ja, das Privileg des Alters ist: Wenn man sich langweilt, dann weiß man wenigstens, dass es nicht mehr für lange ist.«
    »Aha?«
    »Ich kann mich nicht beklagen: Ich bin noch bei guter Gesundheit und lebe in einem angenehmen Rahmen. Meine Rente ist sehr anständig. Nein, wirklich, es wäre ungehörig, wenn ich mich selbst bemitleiden würde. Aber Altwerden, wissen Sie … Altwerden ist eine Last.«
    Ich dachte: Was mich angeht, wird das Altwerden sicher eine Plage, die ich zum Wohl der Allgemeinheit besser vermeiden sollte, falls ich nach meiner alten Mutter komme. Und das nur wegen diesem verdammten Erbgut, das man abkriegt, ohne es zu wollen, sobald man so was wie eine Abstammung hat. Ganz abgesehen von all den Mängeln, die ich nicht mal ahnen kann, weil sie ja unbekannt sind, von meinem Vater und seiner Sippe her.
    Als ich fertig war mit Nachdenken, habe ich gemerkt, dass Margueritte still war.
    Es kommt selten vor, dass wir uns direkt ins Gesicht sehen, sie und ich. Auf einer Bank ist das ja auch normal, weil man nebeneinandersitzt. Wir unterhalten uns und schauendabei den Kindern zu, die mit ihren Rollern Rennen fahren. Oder den Wolken, oder den Tauben. Was zählt, ist, dass wir uns zuhören – dafür muss man sich ja nicht sehen. Aber da sie jetzt nichts sagte, habe ich ihr einen kurzen Blick zugeworfen. Sie sah trübsinnig aus, und so was haut mich immer um. Ich ertrage es einfach nicht, wenn Kinder oder Alte unglücklich sind. Das geht mir an die Nieren. Deshalb konnte ich nicht anders – ich habe Margueritte an den Schultern gepackt und ihr einen dicken Kuss auf die Backe gegeben.
    Sie hat meine Hand gedrückt – es sah so aus, als wäre sie kurz davor, eine Träne zu vergießen – und gesagt: »Germain, Sie sind ein prima Kerl. Ihre Freunde haben großes Glück.«
    Was willst du darauf antworten? Wenn du ja sagst, wirkst du wie ein eitler Blödmann. Wenn du nein sagst, wie ein alter Heuchler.
    Also meinte ich: »Ach …«
    Das war völlig ausreichend.
    Margueritte hat gehüstelt. »Sagen Sie, wenn ich mich nicht irre, hatten wir uns doch fest vorgenommen, weitere Lektüren miteinander zu teilen, nicht wahr?«
    »Das stimmt.«
    »Und wir haben das seit Frühes Versprechen nicht mehr getan. Das ist schon ein paar Wochen her, oder?«
    »Ja, richtig.«
    »Dem müssen wir abhelfen. Was soll ich Ihnen als Nächstes vorlesen?«
    »Äh … Also …«
    »Gibt es ein Thema, das Sie besonders interessiert?«
    »…«
    »Etwas Historisches zum Beispiel? Abenteuerromane? Krimis? Ich weiß nicht … oder …«
    »Die Amazonas-Indianer!«
    Und im gleichen Moment habe ich mir gesagt, dass ich jetzt schon wieder wie ein Trottel dastehen würde.
    Aber Margueritte meinte: »Ah, die Amazonas-Indianer, ja natürlich! Natürlich … Da glaube ich, ohne mich zu weit vorwagen zu wollen, dass ich einen Roman in meiner Bibliothek habe, der Ihnen gefallen dürfte …«
    Ich war nicht mal erstaunt: Wenn man Bücher über die Pest hat, dann hat man auch welche über die Jíbaros.
    »Ist es von Camus?«
    »Nein, dieses nicht. Aber es ist trotzdem gut, Sie werden sehen.«
    Ich habe gesagt: »Einverstanden!«
    Und das stimmte auch.

 
    S o kam es, dass Margueritte mir Der Alte, der Liebesromane las vorgelesen hat. Eines Montags ist sie damit angekommen, stolz wie sonst was. Sie hat das kleine Buch aus ihrer Tasche gezogen und auf den Umschlag geklopft: »Das ist das Buch, von dem ich Ihnen neulich erzählt habe.«
    »Über die Amazonas-Indianer?«
    »Ja, unter anderem.«
    »Es ist klein.«
    Sie hat gesagt, daran sollte man ein Buch nicht messen.
    »Genauso wenig, wie man Leute an ihrer Größe messen sollte«, meinte ich. »Solange man

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