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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Da habe ich einen kleinen Jungen gesehen, direkt vor mir, in der Kinderecke. Er schaute sich mit gerunzelter Stirn die Titel an, nahm ein Buch raus, las, was auf der Rückseite stand, und stellte es dann zurück. Etwas weiter nahm er ein anderes raus, und das Gleiche ging von vorn los.
    Ich habe mir gesagt: Das ist nicht blöd! Mal sehen, was sie hintendrauf über die Geschichte erzählen, das wird mir helfen.
    Aber es hat mir nicht geholfen.
    Was die hinten auf die Romane schreiben, da fragt man sich, ob es wirklich dafür gedacht ist, dass man Lust aufs Lesen kriegt. Sicher ist jedenfalls, dass es nicht für Leute wie mich gemacht ist. Nichts als Wörter zum Davonlaufen – introspektiv, existenzielle Suche, bewundernswerte Konzision, polyphoner Roman …  – und kein einziges Buch, wo einfach stand: Das ist eine Geschichte, die von Abenteuern oder Liebe erzählt – oder von Indianern. Und Schluss.
    Ich sagte mir: Wenn du nicht mal die Zusammenfassung verstehst, wie willst du dann den Rest kapieren, du armer Blödmann?
    Die Sache mit den Büchern und mir war nach wie vor schwierig, da war einfach der Wurm drin.
    In dem Moment ist die Frau zurückgekommen und hat gefragt: »Haben Sie gefunden, was Sie wollten?«
    Ich wusste nicht, wie ich nein sagen sollte, deshalb habe ich ihr ein Büchlein gezeigt, das ich gerade auf gut Glück rausgezogen hatte. »Ja, danke, ich möchte dieses hier.«
    Sie hat das Buch mit großen Augen angeschaut, ich kam mir ganz blöd vor. Dann habe ich mir gedacht, egal, stehe ich eben mal wieder als Volltrottel da. »Meinen Sie, das könnte was für meine Großmutter sein?«
    Sie hat gelächelt. »Oh! Ja, ja, natürlich! Ich bin nur überrascht, weil Sie sagten, Sie wollten keine Novellen, aber … Nein, das ist eine sehr gute Wahl. Es ist sehr schön, vor allem die erste Geschichte, nach der das Buch benannt ist, Sie werden sehen. Es ist poetisch, ergreifend … Ich bin sicher, dass es ihr gefallen wird.«
    Dann hat sie mir eine Karteikarte ausgestellt. »Sie können die Bücher zwei Wochen behalten und immer drei gleichzeitig ausleihen.«
    Ich habe gesagt: »Gut, danke und auf Wiedersehen!«
    Beim Rausgehen habe ich mir den Titel angeschaut: Das Kind vom hohen Meer .
    Ich war neugierig, wovon das wohl handelte.

 
    I ch habe es nicht gleich aufgemacht. Ich habe erst zwei, drei Tage gewartet. Manchmal nahm ich das Buch nur in die Hand, um zu sehen, was passiert. Ich hob den Deckel ein bisschen hoch, ganz unauffällig, wie ein Lustmolch, der den Mädchen unter die Röcke guckt, aber dann klappte ich es sofort wieder zu und haute ab, in die Kneipe oder in den Garten.
    Dann habe ich die Stimme in meinem Kopf gehört, die sagte: Germain, verdammt, was soll das? Hast du Angst vor einem Buch oder was? Hast du mal an Margueritte gedacht?
    Da habe ich mir gesagt: Okay, ich versuche es. Aber wenn ich es nicht schaffe, alles zu verstehen, was auf der ersten Seite steht – zumindest fast –, dann schmeiß ich es hin.
    Und dann habe ich angefangen.
    Wie war diese schwimmende Straße entstanden?
    Bis dahin ging es. Es ergab zwar noch keinen Sinn, aber es funktionierte.
    Welche Seeleute hatten sie, mit Hilfe welcher Architekten, auf der Oberfläche des offenen Atlantiks erbaut, über einer Tiefe von sechstausend Metern? Sechstausend Meter? Wenn ich drei Nullen wegnehme, macht das … sechzig … nee, sechs … das sind sechs Kilometer. Eine Tiefe von sechs Kilometern? Mannomann, das ist ein ganz schöner Abgrund, sechs Kilometer!
    Donnerwetter.
    Diese lange Straße … diese mit Schiefer und Ziegeln gedeckten Dächer … Es ging immer noch.
    … diese unwandelbaren bescheidenen Läden ?
    Verdammt, habe ich gedacht, jetzt geht’s los! Un-wan-del-bar. Also …
    O, P, Q, R … S, T, U.
    Uf, Uh, Um, Un, da ist es.
    Un-a, Un-f, Un-t, Un-v, Un-w … Hier.
    Unwandelbar – was nicht wandelbar ist, was immer gleich bleibt . Läden, die sich nicht verändern, also. Wie bei Moredon, dem Bäcker in der Rue Paille, der so geizig ist, dass er seine Fassade seit zwanzig Jahren nicht gestrichen hat – das sollte er aber, weil es langsam echt runtergekommen aussieht.
    Ich habe bis ganz unten gelesen: Und wie nur hielt das alles aufrecht, ohne dass es in den Wellen hin und her schwankte?
    Na also! Ich hatte die erste Seite ohne Probleme geschafft, weil ich nämlich, ohne angeben zu wollen, bis auf ein Wort alles verstehen konnte.
    Mir war nicht ganz klar, worauf die Geschichte hinauslaufen sollte,

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