Das Labyrinth der Wörter
welche?«
Wir haben über Francine geredet, über Annette, über unsere Mütter – vor allem über seine, die gestorben ist, als er neun war. So viel Glück hat nicht jeder.
Youssef hat gesagt, was ihn bei Francine am meisten stört, ist, dass sie zum Kinderkriegen schon über das Verfallsdatum hinaus ist. Und Youss ist ganz verrückt nach Kindern,er hat seine fünf Schwestern großgezogen. Vor allem Fatia, die Jüngste, siebzehn, ein total verrücktes Huhn, aber so süß, dass sie die ganze Welt nach ihrer Pfeife tanzen lassen könnte, das kleine Biest.
Youss kann sich also ein Leben ohne Fläschchen und Windeln nicht vorstellen, was ich noch vor kurzem verdammt unnatürlich gefunden hätte für einen Mann. Aber das Komische war, dass ich, als ich ihm so zuhörte, plötzlich auch Lust bekam.
»Bist du sicher, dass Francine dir keins mehr machen kann?«
»Na ja, sie ist sechsundvierzig …«
»Dann adoptiert ihr eben eins. Sie kann vielleicht keins mehr selbst machen, aber großziehen, das kriegt sie definitiv hin. Unglückliche Kinder sind nicht so außergewöhnlich, dass sie wirklich selten wären, weißt du.«
»Das glaubst du.«
»Das glaube ich nicht, das weiß ich.«
»Na ja, aber wir sind auch sechzehn Jahre auseinander …«
»Trifft sich doch gut: Bei dem Altersunterschied könnt ihr später zusammen abkratzen, und sie muss nicht deine Witwe werden. Ehrlich, du zerbrichst dir da umsonst den Kopf.«
»Vielleicht hast du recht«, hat er gesagt.
Daraufhin sind wir auseinandergegangen, und auf dem Nachhauseweg habe ich bemerkt, dass wir über nichts anderes geredet hatten als über Frauen. Und dass Annette mir fehlte, nicht nur wegen ihrer Haut.
Also bin ich zu ihr gegangen.
I ch habe nachgedacht.
Und ich bin zu folgendem Ergebnis gekommen: Auch wenn Annette mir Bücher vorlesen kann, will ich trotzdem versuchen, eins oder zwei allein zu lesen. Und zwar ganz. Wenn ich das schaffe, könnte ich vielleicht auch Margueritte vorlesen, wenn sie nichts mehr sieht.
Das habe ich mir so gesagt.
Ich bin in die Bücherei gegangen, weil Annette davon geredet hat und wegen Monsieur Bâ, seinen Alten und den verbrennenden Bibliotheken. Es ist praktisch, der Eintritt ist tatsächlich frei.
Und drinnen waren meterweise Bücher! So viele, dass es einem das Lesen verleiden könnte, denn wie Landremont sagt: »Wer die Wahl hat, hat die Qual.«
Ich stand da, ohne mich für irgendwas entscheiden zu können, sodass eine Frau, die hinter einem Schreibtisch saß, mich nach einer Weile gefragt hat: »Suchen Sie etwas?«
»Ein Buch«, habe ich geantwortet.
»Da sind Sie hier richtig! Wenn ich Ihnen helfen kann …«
»Ja, gern.«
»Welchen Titel möchten Sie? Welchen Autor?«
Pff! Woher sollte ich das denn wissen?
Sie schien auf meine Antwort zu warten.
Ich habe gedacht: Wenn das so weitergeht, kriegt sie mit,dass ein Typ wie ich hier nichts zu suchen hat, und schmeißt mich raus. Da habe ich gesagt: »Eigentlich suche ich kein bestimmtes … Ich will einfach nur ein Buch zum Lesen.«
»Aha, gut, ich verstehe …« Und mit einem strahlenden Lächeln, als ob sie mir was verkaufen wollte: »Sachbuch, Essay, Belletristik?«
»Nein, nein, einfach ein Buch, das eine Geschichte erzählt, verstehen Sie?«
»Belletristik also. Was für eine Sorte?«
»Kurz«, habe ich gesagt.
»Novellen?«
»Ach nein. Erfundene Geschichten.«
»…? Einen Roman?«
»Ja genau, einen Roman. Ein Roman ist gut. Aber sehr kurz.«
Sie ist aufgestanden und zu den Regalen rübergegangen, wobei sie vor sich hin gemurmelt hat: »Ein sehr kurzer Roman … Ein sehr kurzer Roman …«
»Und leicht, wenn’s geht.«
Sie ist mit einem großen Fragezeichen im Gesicht stehen geblieben: »Für ein Kind welchen Alters soll es denn sein?«
Sie fing an, mir ernstlich auf den Senkel zu gehen, die Gute. »Es ist für meine Großmutter.«
In dem Moment ist ein Mann mit zwei überdrehten Bälgern aufgetaucht und hat ihr zugewinkt.
Da ist sie abgedampft mit den Worten: »Ich komme gleich wieder, schauen Sie sich doch so lange um. Die Romane für Erwachsene sind dort.«
Und sie hat mir sechs Reihen gezeigt, jede drei Meter lang und eins achtzig hoch, lackiertes Buchenfurnier mit Profilkanten an den Vorderseiten und innen perforierten Seitenbrettern. Ich bin ein bisschen dazwischen rumgelaufen und habe hier und da ein Buch rausgenommen.
Aber es waren zu viele, und sie sahen alle gleich aus, oder jedenfalls fast, das hat mich entmutigt.
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