Das Labyrinth der Zeit
Überlebende alle damaligen Bewohner ums Leben gekommen waren. Die verheerende Gewalt, der diese Menschen damals zum Opfer gefallen waren, bescherte Travis bis heute quälende Albträume. Paige ging es nicht anders. Ein paarmal im Monat musste er sie aus solchen Schreckensträumen aufwecken.
Nach dieser Katastrophe waren für Tangent dann neue Mitglieder angeworben worden, so geschwind, wie es bei der gebotenen Vorsicht eben möglich war, und so waren die Reihen innerhalb weniger Jahre im Wesentlichen neu aufgefüllt worden. Dann aber, als Paige und einige langgediente Kollegen, die mit ihr die damalige Führungsspitze bildeten, in dienstlicher Mission in Washington weilten, waren sie in ihrer Wagenkolonne von schwerbewaffneten Angreifern unter Beschuss genommen worden – die ersten Salven, mit denen ein neuer Konflikt eröffnet wurde. Alle Kollegen waren bei dem Gemetzel umgekommen, nur Paige hatte überlebt. Von da an war sie die einzige Person auf der Welt, die dazu fähig war, Tangent zu führen. Der stärkste der wenigen Fäden, die die Organisation in ihrer jetzigen Form noch mit ihrer Vergangenheit verbanden.
«Fast das gesamte letzte Jahrzehnt habe ich hier mit meinem Vater zusammengearbeitet», sagte sie. «Mit ihm und hundert anderen, von denen die meisten seit der Anfangszeit dabei waren und damit auch in den Jahren, in denen Skalar stattgefunden hat. Wie kann es sein, dass nie auch nur einer etwas davon erwähnt hat?»
«An fehlendem Vertrauen kann es nicht gelegen haben», warf Travis ein.
«Niemals. Wir haben uns alle blind vertraut. Wir waren eine verschworene Gemeinschaft.»
«Aus welchem Grund könnten sie sonst geschwiegen haben?», sagte Travis. «Aus Verlegenheit?»
Paige warf ihm einen Blick zu. Der Gedanke schien ihr sichtlich Unbehagen zu bereiten. Sie schüttelte den Kopf, wobei diese Geste auf Travis aber weniger ablehnend wirkte als vielmehr ratlos, unschlüssig.
Eine halbe Minute lang schwiegen sie beide. Der leise, eben noch hörbare Ton des Fernsehers lockerte die lastende Stille etwas auf.
Plötzlich riss Paige ein wenig die Augen auf und sagte: «Blau.»
Das Wort schien sie selbst zu überraschen, noch während sie es aussprach. Sie erhob sich vom Sofa und ging zielstrebig über den kurzen Flur zum Schlafzimmer hinüber. Travis stand auf und schloss sich ihr an.
Als er ins Zimmer kam, hatte sie den PC-Bildschirm bereits angeschaltet; der Computer selbst lief schon die ganze Zeit über.
«Blauer Status», sagte Paige, öffnete per Mausklick den Dateimanager und navigierte durch eine Reihe von Ordnern. Travis versuchte erst gar nicht, den Überblick zu behalten. «Das ist ein Bündel von Sicherheitsmaßnahmen, die wir bei Leuten anwenden, die aus dem Dienst bei Tangent ausscheiden.»
«Ach, das ist mir neu. Bei Tangent sind auch schon Leute ausgeschieden?», fragte Travis verblüfft. «Abgesehen von mir natürlich, in der Zeit, als ich nicht hier war.»
«Das kommt auch kaum je vor», erwiderte Paige, ohne ihre Konzentration zu unterbrechen. «Dreimal insgesamt, in vierunddreißig Jahren. Dich nicht mitgezählt.»
Sie gelangte zum Ende eines Verzeichnisbaums, und Travis fiel ein Ordnersymbol ins Auge, das sich auffällig von den anderen Symbolen unterschied: Es war blau. Paige klickte es an. Ein Eingabefeld öffnete sich, in das zwei unterschiedliche Passwörter eingegeben werden mussten. Paige tippte sie geschwind ein, nur bei dem zweiten Wort musste sie kurz nachdenken.
Auf dem Bildschirm öffnete sich eine Personalakte. Das Format war Travis nicht unvertraut; während seiner Zeit hier hatte er schon seine eigene Akte und noch diverse andere zu Gesicht bekommen.
Die drei Namen jedoch, die jetzt auf dem Bildschirm erschienen, waren ihm vollkommen fremd.
Rika Sengupta.
Carrie Holden.
Bartolo Conti.
«Alle drei waren seit der Anfangszeit mit dabei», erklärte Paige. «Gut möglich, dass mein Vater sie damals persönlich angeworben hat.»
Innerhalb von Sekunden öffnete Paige alle drei Akten und arrangierte sie parallel in drei Fenstern, sodass sie alle gleichzeitig zu sehen waren.
Alle drei hatten sich Tangent zwischen dem Sommer 1978 – dem Gründungsjahr der Organisation – und Ende 1979 angeschlossen. Angehörige der Originalbelegschaft sozusagen. Travis überflog die Daten, zu denen die drei ausgeschieden waren. Sengupta, Holden und Conti waren jeweils 1989, 1994 und 1997 ausgeschieden. Alle drei waren also den gesamten Zeitraum über bei Tangent gewesen,
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