Das Labyrinth der Zeit
spurtete weiter, mit fest geschlossenen Augen. Es war nur eine Erinnerung.
Travis hielt Paige in seinen Armen und wartete. Drei Minuten und sechzehn Sekunden. So lange – oder kurz – dauerte es immer, egal, wie viel Zeit jemand in einer Erinnerung verbrachte. Bei seinem Selbstversuch mit dem Anzapfer war Travis wahllos in eine Nacht während seiner Zeit in Atlanta zurückgekehrt. Nachdem er sich mitten in eine lange Nachtschicht versetzt hatte, war er einfach aus der Lagerhalle davonmarschiert und in seinen Ford Explorer gestiegen. Die Nacht und den ganzen folgenden Tag hindurch war er nach Westen gefahren, hatte zwischendurch nur angehalten, um zu tanken, etwas zu essen und sich einige kurze Schlafpausen zu gönnen, und war nach etwa sechsunddreißig Stunden am Pazifik angekommen.
Wenn er gewollt hätte, hätte er sich in dieser Erinnerung monatelang aufhalten können – vermutlich sogar jahrelang. Techniker hatten bis zu sechs Wochen in ihrer Erinnerung verbracht, ohne irgendwelche Schwierigkeiten. Manche hatten sogar ausprobiert, in der Erinnerung bis zur Gegenwart und noch darüber hinaus zu verweilen; hätte das funktioniert, hätten sie sich später an ihre eigene Zukunft erinnern können, ein Phänomen, das allerlei lustige Möglichkeiten in sich barg. Alle Versuche in diese Richtung jedoch waren gescheitert – selbst der Anzapfer hatte eben seine Grenzen. Wenn Probanden bis zur Gegenwart gelangten, blitzte und zuckte in ihrem Gesichtsfeld auf einmal alles in Blau und Grün, ein bisschen wie bei einem PC, bei dem sich ein Systemzusammenbruch ankündigte, und dann tauchten sie unwillkürlich aus der Erinnerung wieder auf – drei Minuten und sechzehn Sekunden, nachdem sie in sie eingetaucht waren, wie immer.
Nur eine Probandin war jemals früher zurückgekehrt. Gina Murphy. Nach etwa zwei Minuten und fünfunddreißig Sekunden hatte sie auf einmal die Augen aufgerissen und wie am Spieß zu schreien angefangen, während sie sich mit beiden Händen den Kopf hielt, als würde er auseinandergesprengt. Gut eine Minute lang hörte sie nicht mehr auf zu schreien, während Travis und andere sie zur Krankenstation trugen. Unterwegs gelang es Gina zwar, sich des Anzapfers zu entledigen – auch dieser Vorgang wurde intuitiv gesteuert, man brauchte ihn bloß aus seinem Kopf hinauszuwünschen, dann trat er an der Schläfe wieder aus –, aber ihre Qualen hörten auch danach nicht auf. Sie endeten erst mit ihrem Tod, etwa um die Zeit, als sie sie in der Krankenstation auf ein Bett legten. Bis dahin quoll mittlerweile Blut aus allen Öffnungen in ihrem Gesicht, die Augen eingeschlossen. Die Autopsie wurde am Tag darauf von einem Pathologen der Army durchgeführt, außerhalb von Border Town. Die Ergebnisse waren, wenig verwunderlich, ohne jeden Präzedenzfall in der medizinischen Fachliteratur. Gina war an einer Hirnblutung verstorben, wobei das Blut ausschließlich aus einer schmalen Zerreißung ausgetreten war, die sich quer über den Neocortex zog. Den Worten des Mediziners nach sah es so aus, als hätte jemand den Inhalt ihres Kopfs mit einer Radialsäge zerteilt, und dies, ohne ihre Schädeldecke dabei zu verletzen – ein beispielloses Kunststück.
Verstörender noch als jene Antworten waren die Fragen, auf die es keine Antwort gab. An erster Stelle die Frage, was genau schiefgegangen war. War das Problem irgendwie durch einen Faktor in Ginas Biochemie ausgelöst worden? Hatte sie den Anzapfer falsch gehandhabt? Falls ja, inwiefern genau? Sie hatte sich in die Bewusstlosigkeit sinken lassen wie alle anderen vor ihr, um eine Erinnerung neu zu durchleben – die Geburtstagsfeier eines Bruders oder einer Schwester, die sie vor Jahren verpasst hatte. Alle Fragen, das war das Beunruhigende, ließen sich schlicht nicht beantworten. Auch in diesem Fall tappte Tangent, wie bei allen Entitäten, völlig im Dunkeln. Nur so viel stand fest: Die Benutzung des Anzapfers konnte, wie auch immer genau, tödliche Folgen haben, und kein Opfer konnte je dazu aussagen, wodurch das Unheil ausgelöst worden war.
Travis behielt die ablaufende Zeit auf seinem Handy im Auge.
Die kritische Phase von zwei Minuten und fünfunddreißig Sekunden verstrich, ohne dass irgendetwas geschah.
Seine Anspannung ließ daraufhin nur marginal nach.
Drei Minuten.
Drei Minuten und zehn Sekunden.
Fünfzehn.
Sechzehn.
Paige zuckte heftig gegen ihn und schnappte japsend nach Luft.
«Scheiße», flüsterte sie.
Sie hob ihren Kopf von
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