Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
Bemoosung der Bäume. Moos wächst nämlich immer an der feuchten Seite der Stämme, an der Seite, aus der der Regen kommt, also meistens aus dem Norden. Ich fühle mich hier wie zu Hause, vielleicht liegt hier irgendwo meine Bestimmung?«
»Du erinnerst dich an so viel.« Jenna lächelte sanft.
»Mein Großvater. Jetzt fällt es mir ein. Er muss es gewesen sein, der mir von all diesen Dingen erzählt hat.«
Sie sah ihn von der Seite an. »Siehst du? Noch eine Erinnerung. Bist du schon ausgeruht genug, um mich weiterzuschleppen? Du warst wegen der Wassersucherei die ganze Zeit auf den Beinen und konntest dich überhaupt nicht erholen.«
»Mir geht es gut. Hier im Wald konnte ich Kraft tanken. Wir haben noch einige Zeit Tageslicht, die sollten wir nutzen. Ausruhen kann ich mich auch nachts, wenn es zu dunkel zum Weitergehen ist.«
Sie machten sich zum Aufbruch bereit.
Ohne sich umzudrehen, rannten León, Tian, Mary, Mischa und Kathy auf die fernen Berge zu, die sich nun deutlich über den Horizont erstreckten. León bildete das Schlusslicht, vor ihm versuchte Mary, das Tempo zu halten, aber ihre Schritte wurden zusehends langsamer. Auch Mischa, Kathy und Tian zeigten deutliche Ermüdungserscheinungen. León rief ihnen zu, dass sie anhalten sollten.
Sie standen im hohen Gras, die Körper vornübergebeugt, hechelnd und keuchend. Tian hatte sich zu Boden fallen lassen, Kathy hustete sich die Seele aus dem Leib.
León hatte das Gefühl, jemand habe ihm ein Messer in die Seite gerammt. Hatte vielleicht einer der Verfolger auf ihn geschossen? Er tastete die Seite ab. Nein, er war unverletzt. Röchelnd würgte er zähen Schleim hoch und spuckte aus.
Der Wind trug den Rauch heran. Schon jetzt konnte man seine eigenen Hände kaum noch sehen. Der Qualm brannte in den Augen.
Was zum Teufel waren das für Verfolger gewesen? Wieso sahen sie ihm ähnlich? All diese Tätowierungen hatten ausgesehen wie seine eigenen. Es war, als hätte er in einen Spiegel geblickt. Ein Wunder, dass Jeb und Jenna, als sie ihn gefunden hatten, nicht schreiend vor ihm weggelaufen waren.
Hatte er früher selbst zu Gestalten wie diesen gehört? Nein, sie waren der Feind, das spürte er, sie waren es schon immer gewesen. Sie waren ihm aus seinem alten Leben hierher gefolgt, um ihn zu töten. Was hatte er bloß getan, dass sie ihn so unerbittlich jagten?
Bei all dem Schrecken, den er empfand, erkannte León aber auch die Merkwürdigkeit der Situation. Etwas stimmte hier nicht, aber er konnte den Fehler nicht finden. Es war dieses Ungreifbare, das ihn zusätzlich ängstigte, und er nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit mit den anderen darüber zu sprechen. Neben ihm erklang ein Ächzen.
León sah zu Mischa auf, der seine Augen mit einer Hand bedeckte und in die Ferne blickte.
»Und?«, brachte er mit Mühe hervor. Sein Hals war wie aufgerieben und jedes Wort, das seinen Mund verließ, schmerzte.
»Der Horizont brennt«, flüsterte Mischa rau. »Überall Flammen. Von unseren Verfolgern ist nichts zu sehen. Aber wir müssen weiter. Das Gras brennt wie Zunder.«
Merde, dachte León. Es war alles umsonst.
Tatsächlich schien ihre Lage aussichtslos, als er nun zurückblickte. Eine gelb-rote Feuerwand walzte auf sie zu. Schwarzer Rauch war überall. Gefräßig wie ein Raubtier verschlang die Feuersbrunst das Land. Dunkle Schwaden stiegen zum Himmel. Es sah aus wie ein Inferno, wie die Hölle selbst. Die Luft war schmerzhaft trocken, sie juckte auf der Haut. León spürte seine spröden Lippen und wünschte sich nicht zum ersten Mal einen Schluck Wasser. Seine Zunge lag wie ein Stein in seinem Mund, es fiel ihm schwer zu sprechen.
»Was jetzt?«, krächzte er.
Mischa schaute ihn verwundert an. »Ich dachte, du weißt, was zu tun ist.«
»Nicht mehr.«
»Okay, passt auf.« Mischa blickte zum Horizont. »Viele Möglichkeiten bleiben uns nicht. Hier warten, bis uns das Feuer erreicht, ist keine Option. Weiterrennen auch nicht, wenn ich mir uns so angucke.«
»Also?«
»Wenn man weder stehen bleiben noch weiterrennen kann, dann geht man.«
León war verblüfft. Mischas Ruhe beeindruckte ihn.
»Du willst dem Feuer einfach davonspazieren?«, fragte er ungläubig. »Unmöglich.«
Mischa lächelte hart. »Warten wir’s ab.«
20.
Es begann mit einem Brausen. Erst leicht, fast nicht auszumachen. Darauf folgte sanftes Rauschen und das Pochen des Pulsschlags in den eigenen Ohren. Jeb blieb stehen. Jenna ließ sich auf den Boden
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