Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
Schlucht kommen.
Die Schlucht, vor der sie nun standen, hatte sich völlig unerwartet – ja, wie aus dem Nichts – hinter dem letzten Anstieg aufgetan. Lange hatte die Gruppe die nur karg bewachsenen Berghänge erklommen, bis auf zerklüftete Felsen und vereinzelte Gräser und trockene Büsche hatte ihnen die Landschaft keine Abwechslung geboten. Sie waren auf direktem Weg dem Stern gefolgt, der immer wieder hinter einzelnen Wolken am ansonsten strahlend blauen Himmel aufgeflackert war. Ohne erkennbare Vorzeichen hatten sich jedoch Gewitterwolken über die Bergspitzen geschoben und hingen nun drohend über ihnen, jederzeit bereit loszubrechen.
Sie waren dem Stern immer näher gekommen, obwohl die Gipfel der Gebirgskette noch in weiter Ferne lagen. Hoffnung hatte sich in ihnen ausgebreitet, obwohl sie nicht wussten, was sie hinter den Portalen erwartete.
Und nun war ihnen überraschend der Weg abgeschnitten, die Schlucht hatte man aus der Entfernung nicht einmal erahnen können. Als ob sich der Berg erst vor wenigen Minuten geöffnet hatte. Dampf stieg aus dem Abgrund, es roch nach Gestein und Erde.
Der Abgrund war so tief, dass sie den Grund von der Kante aus nur erahnen konnten. Und gleichzeitig erstreckte sich die Schlucht scheinbar um das gesamte Bergmassiv herum. León und Mischa waren den Rand der Schlucht in entgegengesetzte Richtungen abgelaufen – ohne Erfolg. Es gab keinen Weg daran vorbei, sie mussten die Schlucht irgendwie überqueren.
Mischa war sehr blass von seiner Erkundungstour zurückgekehrt. Mary, Kathy und Tian fixierten mit ihren Blicken die Portale auf der anderen Seite. Die Kluft zwischen den beiden Seiten betrug selbst an der schmalsten Stelle mindestens dreißig Meter. Keine Chance, da einfach so rüberzukommen, und auch das Gelände bot keinerlei Hilfsmittel.
»Was sollen wir jetzt bloß machen?«, fragte Tian weinerlich.
Kathy fuhr ihn wütend an. »Hör mit der Flennerei auf!«
»Es war alles umsonst. Die ganzen Qualen – für nichts.«
»Halt deine Schnauze! Ich kann dieses Gewinsel nicht mehr hören. Seit fünf Minuten plärrst du vor dich hin. Du gehst mir auf die Nerven.«
León hatte alles schweigend beobachtet. Seit sie den letzten Hügel erstiegen und die Schlucht entdeckt hatten, war kein Wort über seine Lippen gekommen, doch jetzt hob er die rechte Hand.
»Seid still. Alle!«
Aber da platze Mischa der Kragen. »Was? Hast du etwa auch hierfür einen Plan?«, zischte er wütend. »Ja? Dann verrat uns mal, wie wir über diesen beschissenen Abgrund kommen sollen. Umwandern können wir die Schlucht nicht. Das hast du ja selbst gesehen. Die Erdspalte reicht kilometerweit in beide Richtungen. So und jetzt kommst du.«
Mary, Kathy und Tian blickten erschrocken zu León, der sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen ließ: »Wenn wir nicht drum herum laufen können, müssen wir eben mittendurch. Auf dieser Seite runter und auf der anderen Seite wieder hoch.«
»Bist du jetzt vollkommen durchgeknallt?«, tobte Mischa. »Hast du dir überhaupt mal die Mühe gemacht…« Er deutete auf den Abgrund. »... da runterzuschauen? Weißt du, wie steil das ist? Es gibt fast keine Pflanzen oder Felsvorsprünge, an denen man sich festklammern kann. Da ist so gut wie nichts. Scheiße, verdammt noch mal. Du hast uns hierhergeführt…!«
»Reg dich ab«, sagte León und wirkte vollkommen entspannt. »Jeb hatte recht. Wir müssen die Materialien, die wir haben, nutzen. Wir haben ein Seil, mit dem wir jemanden in die Schlucht abseilen können. Derjenige klettert dann auf der anderen Seite der Schlucht hoch und befestigt dort das Seil. Dann können wir uns einer nach dem anderen auf dem Seil hinüberhangeln.«
Mischa schaute verblüfft in die Schlucht hinunter. »Könnte gehen«, meinte er dann. »Das könnte tatsächlich funktionieren! Wer hat das Seil?«
Eben noch außer sich vor Wut, war er jetzt voller Energie und Tatendrang. »Ich mach das«, sagte Mischa weiter. »Ich klettere in die Schlucht runter und drüben wieder hoch. Das schaffe ich.«
»Ich kann auch gehen… Was ist mit deinem Arm?«, fragte León.
»Nein, nein, der ist wie neu, schau. Ich packe das. Ich glaube, ich hab das früher schon mal gemacht. Kein Problem.« Er klopfte León auf die Schulter. »Vertrau mir. Nicht mehr lange und wir alle sind auf der anderen Seite und lassen diesen ganzen Mist hinter uns.«
Ihm war klar, dass er nur einen einzigen Versuch hatte. Denn nicht nur sein Leben hing davon
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