Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)
nein.«
Kassem. Mein Vater. Mein Herr. Mein Feind. Er hatte jenen Befehl überbracht, der zur Auslöschung eines ganzen Dorfs führte, nur um meinen leiblichen Vater verstummen zu lassen. Vater. Mutter. Zwei Schwestern. Der kleine Bruder. Ich war im Wald gewesen und hatte alles aus der Ferne gesehen. Kassem ben Abdullah, Überbringer des Todesurteils und – ebenfalls vom Wald aus – Beobachter der Ausführung. Er und seine später freigelassenen Sklaven Jorgo und Avram, meine Brüder, meine Freunde, hatten mich mitgenommen, mir alles beigebracht, was ich zum Überleben brauchte. Und alles, was nötig war, um Rache an den vier Hauptleuten zu nehmen und an dem widerwärtigen Priester, der sie begleitet und angeleitet hatte.
Kassem, den ich geliebt und verehrt und vermißt und gehaßt hatte. Der Beherrscher meiner schlimmen Träume, in denen ich ihn immer wieder fragte, warum. Warum mußte mein Vater sterben, warum die Familie, warum das ganze Dorf? Wenn ich wach war, kannte ich die Antwort, aber im Traum wußte ich sie nicht. Im Traum erflehte ich von ihm eine Offenbarung, die Antwort auf die Frage, warum er mich geliebt und geleitet, die anderen aber getötet hatte. Ausgebildet zur Rache an jenen, die von ihm beauftragt worden waren. Im Traum gab es keine Erhellung, im Wachen nur diesen endlosen Teufelskreis.
Seit meiner »Heimkehr« nach Venedig und zu Laura waren die Träume seltener und milder geworden, aber von Zeit zu Zeit suchten sie mich nachts immer noch heim. Und nun hatte Bellini sie geweckt; vermutlich ahnte er, was in mir vorging, konnte aber nicht wissen, wie drängend der Traum wurde, wie sehr er das Wachen überschwemmte.
Daß Bellini es ahnte, entnahm ich dem Umstand, daß er zunächst darauf verzichtete, mir Geld für die Dienste als Spion anzubieten. Vielleicht sollte ich sagen: Er verzichtete darauf, mich zu beleidigen, indem er von Geld redete.
Ich brütete. Am Abend des fünften Tages faßte Laura mich an beiden Ohren. »Das ist unerträglich«, sagte sie. »Entweder du reist, oder du hörst auf zu grübeln.«
Ich sah mein Spiegelbild in ihren Augen; dann beschlug der Spiegel. Vielleicht war es auch mein Auge.
»Morgen fahre ich nach Venedig und rede mit Bellini.«
Sie blinzelte und ließ meine Ohren los. »Gut.« Dann weinte sie ein wenig. »Nicht gut«, sagte sie schließlich. »Wer wegen einer alten Rache Frau und Kinder verläßt, der ist auch nicht besser als einer, der wegen einer anderen Frau fortgeht.«
»Ich ... Wirst du mich in Gnade entlassen und wieder aufnehmen – später? Oder verstößt du mich aus deinem Herzen?«
»Ich habe es dir vor Jahren gesagt. In meinem Herzen ist kein Platz für dich und deine Rachegedanken. Komm zurück, wenn die Rache nicht mehr ist. Oder wenn wenigstens deine Gedanken daran aufgehört haben.«
Es gab einiges zu bereden. Bellini wirkte nicht besonders überrascht, als ich ihn aufsuchte.
»Komm«, sagte er, »es ist besser, wesentliche Dinge bei gutem Essen zu besprechen als mit knurrendem Magen.«
»Deshalb komme ich zur Mittagszeit.«
Er klopfte mir auf die Schulter. »Und deine vortreffliche Gattin? Hat sie dich verflucht?«
»Nur halb.«
Wir schwiegen, bis wir die Garküche erreicht hatten, in der er und andere Diener der Stadt oft ihre Mahlzeiten einnahmen. Vor dem Eingang blieb er stehen, wandte sich um und starrte auf den Großen Kanal, der unter grauem Sommerhimmel wie geschmolzenes Blei wirkte. »Das allerbeste Reisewetter«, murmelte er.
»Wann kann ich reisen?«
Er kniff die Augen zu Schlitzen. »Laß mich rechnen.«
Er rechnete, bis wir die Vorspeisen vertilgt hatten. Dann faltete er die Hände hinter dem Kopf, sah jedoch nicht mich an, sondern blickte hinter dem Schankdiener her, der uns gedünsteten Fisch in einem Muschelkranz gebracht hatte und mit der leeren Vorspeisenplatte verschwand.
»Wahrscheinlich in ein paar Tagen.« Er schien mit der niedrigen Decke des Raums zu reden. »Ich erwarte ein seetüchtiges Schiff, das von hier nach Ragusa gehen wird. Sie sollten dich mitnehmen können, wenn nichts dagegenspricht. Was weißt du von Ragusa?«
»Was jeder so weiß. Eine Handelsrepublik wie Venedig, also von Gaunern geleitet. Zweihundert Jahre unter eurer Herrschaft, dann unabhängig, mehr oder minder jedenfalls...«
Er knurrte etwas, dann sagte er: »Reden wir nicht von Tributzahlungen an den König von Ungarn und den von Serbien; nennen wir es Unabhängigkeit.«
»Und heute sind sie Teil des Osmanischen Reichs,
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