Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)
nimm.«
»So nicht? Wie denn?«
Er hockte sich neben Antonio, riß einen Streifen aus dessen blutgetränktem Hemd, stand wieder auf, legte den Streifen über meine Hand und setzte den Beutel darauf. »So mir geben?«
Ich nahm an, daß es sich um eine für ihn und seine Leute heilige oder jedenfalls feierliche Geste handelte. Also nickte ich, verneigte mich vor ihm, hielt die Hand mit Tuch und Beutel hin und sagte: »Mein Bruder, nimm diese schlichte Gabe von einem Toten, der dein Bruder war, und einem Lebenden, der ohne dich tot wäre.«
Als ich ihn anblickte, grinste er. »Nicht ganz richtig, aber fast. Genug.« Er nahm den Streifen und den Beutel, hob sie hoch, berührte seine Stirn damit, verneigte sich und steckte den Beutel ein. Aus einer anderen Tasche zog er einen zerknitterten Streifen eines ehemals feinen, dünnen blauen Stoffs, verneigte sich abermals und hielt ihn mir hin. »Minderwertig«, sagte er. »Aber nehmen, dann ...« Er suchte nach Wörtern, spreizte die Arme ab, deutete ein Schwanken an, das in Gleichgewicht endete, und sagte lächelnd: »Wiege gewiegen gleich?«
»Die Waage ist ausgeglichen?«
»So!«
Ich nahm den blauen Streifen, hob ihn an die Stirn und steckte ihn ein.
»Und jetzt?« Er klang beinahe erleichtert.
»Die beiden lassen wir liegen«, sagte ich. »Darum soll Karim Abbas sich kümmern. Aber Antonio sollten wir begraben.«
Er zögerte einen Moment. »Du hier wart«, sagte er. »Kannst du? Oder Hilfe helfen?«
»Ich kann warten. Was hast du vor?«
Er klopfte auf die Tasche, in die er den Beutel gesteckt hatte. »Serai gehen, bezahlen, Pferde und Pack holen, kaufen ...« Er suchte wieder ein Wort, machte dann Schaufelbewegungen.
»Schaufel«, sagte ich. »Gut. Ich fürchte, wir können nicht in Pristina bleiben. Ich fürchte sogar, daß wir hier nicht lange warten sollten. Bring Wasser, Brot und Fleisch mit, hörst du?« Aus meinem Beutel nahm ich einen goldenen Altun und reichte ihn ihm. Als er den Kopf schüttelte, sagte ich: »Nimm. Mein Anteil. Sonst warte ich nicht.«
»Wegfliegen?« Er grinste wieder.
»Wie ein Vogel mit einem Flügel, ja.«
»Na schön«, sagte er. »Bald wieder hier.«
Ich sah ihm nach, bis er auf dem Waldweg verschwunden war. Dann setzte ich mich neben Antonio auf den Boden und beschäftigte mich mit meinen Gedanken. Von denen gab es reichlich.
NEUNZEHN
Berge, Schreiber und andere Hindernisse
I ch wußte gar nicht, daß du so gut bist«, sagte Goran, als er mittags meine neuen Seiten gelesen hatte.
»Ich bin nicht gut.« Nachdem ich dies gesagt hatte, lauschte ich in mich hinein. Ich fühlte mich auch nicht gut. Nicht genug geschlafen, etwas Falsches gegessen, zuviel getrunken, beim Schreiben zu gründlich an die Vorgänge gedacht, abermals gerätselt, gelitten, getrauert? »Ich versuche nur, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und die Menschen auch. Hin und wieder trifft man einen, den man mag und dem man vertrauen möchte. Dieses Gefühl ist manchmal zutreffend, manchmal muß man später teuer dafür bezahlen. Für mich hat es sich oft als nützlich herausgestellt, dem Gefühl zu trauen; mancher von denen, die ich ›gut‹ behandelt habe, hat mir geholfen und war ›gut‹ zu mir. Sogar gewisse alte Schurken aus Orebic, denen ich zuviel für eine kleine Schiffsreise bezahlt habe.«
»Lange Rede.« Während ich sprach, hatte Goran sichtlich bemüht ein Lächeln unterdrückt; nun ließ er zu, daß es sich auf seinem Gesicht ausbreitete. »Ich wollte dich nicht beleidigen und nicht als gutmütigen Trottel bezeichnen. Das bist du zwar, aber das habe ich nicht gemeint.«
»Was denn?«
»Deinen Umgang mit dem Degen.«
»Ach so. Aber auch da bin ich nicht gut. Ich habe nur eine gewisse Erfahrung. Wenn es eng wird, lasse ich die Erfahrung kämpfen und schaue gewissermaßen zu.«
»Du hast überlebt. Viele andere sind gestorben.«
»Wer überlebt, hat Glück gehabt.«
Goran schnalzte. »Glück, heißt es, hat auf die Dauer nur der Tüchtige. Und da es bei dir schon ziemlich lange dauert, mußt du ziemlich tüchtig sein.«
»Es gibt sicher Leute, die meinen, daß es bei mir schon unziemlich lange dauert.«
»Karim Abbas, zum Beispiel.«
»Laß uns diesen herrlichen Morgen, an dem es draußen stürmt, das Meer sich übergibt und die Sonne sich in Wolkenwatte wickelt ...«
»Ha ba ba.«
»... laß uns diesen herrlichen Morgen nicht durch die Erwähnung schwarzer Namen verfinstern.«
Goran steckte die Hände in die Achselhöhlen. »Es ist
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