Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)

Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)

Titel: Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
Vom Netzwerk:
gefunden, in einem Waldstück etwa fünfzehn Meilen südlich von Pristina, abseits eines Weges, auf dem auch tagsüber nicht viele Menschen unterwegs waren. »Sonnenaufgang reiten?« sagte er.
    »Bei Sonnenaufgang oder in den Sonnenaufgang?«
    »Du nicht Osten.«
    »Aber du. Dort ist deine Heimat.«
    Er nickte. »Weit weg, lang her. Nicht weiß, will ich hin oder mehr sehen.«
    Es war kalt; als ich versuchte, die Decke enger um mich zu ziehen, rebellierte meine Schulter. Ich stöhnte leise.
    Belgutai hob die Augen vom Feuer zu meinem Gesicht. »Du nicht allein reiten«, sagte er.
    »Danke, Freund – aber ich kann nicht zulassen, daß du dich ewig um mich kümmerst.«
    »Nicht ewig, ewig zu langes Wort.« Er lachte. »Nur bis Heilung prächtig gediehen.«
    »Noch einmal: Danke, Freund. Aber wohin reiten wir?«
    Er zog die Oberlippe zwischen die Zähne. »Südlich? Ich nicht kenn Wege.«
    Ich überlegte. »Skopje?« sagte ich.
    Er schüttelte den Kopf.
    Nach Skopje, sagte ich mir, mußte eine breite Heerstraße führen, die wahrscheinlich auch im Winter Händler, Reisende und Soldaten nutzten. Vermutlich befanden wir uns etliche Meilen östlich dieser Straße. Weiter südwestlich gab es eine albanische Stadt namens Prizren. Von dort mußte es möglich sein, Scutari zu erreichen, eine Stadt, die lange unter venezianischer Herrschaft gestanden hatte und vor einigen Jahrzehnten von den Türken erobert worden war. Nicht weit von Scutari lag die Grenze der immer noch venezianischen Teile Albaniens, die von Cattaro verwaltet wurden, und irgendwie müßte es möglich sein, durch die Berge und über Ziegenpfade diese Grenze zu erreichen. Vielleicht war inzwischen der Krieg zwischen dem Osmanischen Reich und der Heiligen Liga beendet oder zumindest eingeschlafen, und wenn das so wäre, würden die Grenzen sicher nicht mehr streng bewacht.
    Aber zunächst war all dies müßig. Grenzen kann man erst überschreiten, wenn man sie erreicht hat, und davon waren wir weit entfernt. Es ist möglich, daß an jenem Abend mein Fieber begann, denn ich erinnere mich nicht mehr an den Fortgang des Gesprächs. Und bis heute weiß ich nicht, wie es Belgutai gelang, mich abseits von Straßen und Dörfern, im Schnee, gehetzt von eisigen Winden am Leben zu halten.
    Wir müssen hin und wieder trotz aller Vorsicht Dörfer berührt haben, jedenfalls erinnere ich mich an Gesichter und Gerede. Es sind keine deutlichen Erinnerungen, eher unscharfe Bilder und vom Rauschen der Winterstürme entstellte einzelne Wörter, selten ganze Sätze. Schärfer und vollständiger werden die Erinnerungen erst an einen Abend, den wir in einem großen Haus in den Bergen verbrachten. In der Erinnerung ist es jedenfalls groß, ein Raum mit hoher Decke und einer Feuerstelle, über der man einen ganzen Ochsen hätte braten können. An diesem Abend – oder vielleicht an einem anderen – erzählte jemand in geläufigem Kroatisch von den Heldentaten des gewaltigen Skanderbeg, der in vielen Schlachten die Türken von Albanien fernhielt, bis sie es schließlich doch eroberten, und Belgutai berichtete von den Feldzügen und Siegen seiner Vorfahren Tschingis und Batu und von den Listen eines Feldherrn namens Subotai, den man den Mann mit dem Eisenkarren nannte, weil er zu fett war, um auf einem Pferd zu sitzen.
    Ich glaube, in diesem oder einem ähnlichen Haus begann meine Genesung. Es muß Anfang Februar gewesen sein, also vor etwa zehn Monaten, und da hatten wir noch einen langen Weg vor uns. Der Winter war hart in den Bergen, die Pässe verschneit, die Straßen unwegsam. Es gab Tage, die wir in Höhlen verbrachten, in der Hoffnung auf das Ende eines Schneesturms, oder, wenn wir Glück hatten, in einer Scheune. Ich glaube, wir haben für alles, was über die gewöhnliche Gastfreundschaft der Bergmenschen hinausging, geziemend gezahlt, denn als wir Scutari erreichten, waren unsere Beutel beinahe leer.

    »Heute ist der fünfzehnte März«, sagte ich, »und heute vor eintausendfünfhundertdreiundachtzig Jahren wurde in der Stadt Rom ein wichtiger Mann ermordet.«
    Belgutai kaute auf einer Brotkruste herum. Es dauerte einige Zeit, bis er damit fertig war, schluckte und antworten konnte. »Wenn heute noch wissen, muß Mann sehr wichtig gewesen.«
    Unser letztes Geld hatte für ein Nachtlager, den Stall und Futter für die beiden letzten Pferde gereicht, nicht für üppiges Essen. Eines der vier Pferde war auf dem Eis eines Passes ausgerutscht und in eine Schlucht gestürzt, das

Weitere Kostenlose Bücher