Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)
andere hatten wir etwa eine Woche zuvor geschlachtet und gegessen, in einem Bergdorf, dessen Bewohner dem Hungertod nah waren.
Ich berührte den neu gefüllten Beutel an meinem Gürtel und genoß das Klirren der Münzen, die Erleichterung in Belgutais Augen und die Eilfertigkeit des Wirts, der den Beutel sah, vielleicht auch hörte und mit einem strahlenden Lächeln fragte, ob uns frisches Brot, ein Stück Braten, eingekochtes Obst und dünner Würzwein den Morgen aufheitern könne.
»Verdünntes Warmbier«, sagte ich.
»Geld und Nachrichten?« Belgutai wartete, bis ich mich gesetzt hatte, dann ergänzte er: »Geld ist gute Nachricht.«
»Ei, fürwahr. Mein Bankbrief gilt auch hier, und eigentlich ist der Krieg vorbei.«
Belgutai nickte. »Jetzt großes Aber.«
»Wie recht du hast. Man bereitet die Rückeroberung von Herceg Novi vor. Deshalb sind alle Straßen voll von Soldaten, die hierhin und dorthin verlegt werden.«
»Von hier nach Herceg Novi, von woanders nach hier?«
»Beides. Und Kanonen und Pulver und Vorräte und Pferde und Karren.«
»Warum von woanders nach hier?«
»Damit Venedig nicht auf dumme Gedanken kommt, wenn die Soldaten des Sultans verlegt werden.«
Irgendwann im Winter, als ich nicht bei mir war, hatte Belgutai beschlossen, er wolle doch nicht heimkehren, sondern mehr vom Westen sehen und wenigstens einmal über das Meer fahren. Die Eltern, sagte er, seien sicherlich längst gestorben, er habe mit dem Bogen und dem Säbel keine Schätze erbeutet, und statt bei einem seiner Brüder als Pferdeknecht zu arbeiten, könne er auch in salzigem Wasser ertrinken, mit großen Fischen plaudern oder jenseits des Meeres Wolken mit Pfeilen spicken. Nachdem ich wieder zu Kräften gekommen war, keiner Hilfe mehr bedurfte und keine Möglichkeit sah, ihm jemals gebührend zu danken, hatte ich ihm versprochen, in Venedig für ihn Arbeit zu finden: als Bogenschütze, Fischplauderer, Rossetummler, Zureiter, Wolkenschieber oder Verfertiger von vergorener Stutenmilch.
Mit großem Behagen nahmen wir die erste üppige Mahlzeit seit vielen Tagen zu uns. Danach bat ich den Wirt, sich an unseren Tisch zu setzen und uns einige Fragen zu beantworten. Fragen zur Lage der Dinge, zur Nutzbarkeit von Straßen, zu Wegen durch die Berge und zu listigen Männern, die möglicherweise mehr von geheimen Wegen über die Grenze als von übertriebener Gesetzestreue hielten.
Elf Tage später brachten uns Schmuggler auf venezianisches Gebiet. Wie immer, wenn etwas geschieht, womit sich die Verwaltung beschäftigen muß, gab es auch dort mehr neue Hindernisse als Lösungen. Ich wollte heim, nach Venedig, und ich wollte Belgutai mitnehmen.
»Ein – was?«
»Mongole.«
»Wie die aus dem Buch von Marco Polo?«
»Beinahe. Aber er lebt, wie Ihr seht, Herr. Er ist nicht aus Papier.«
Der Schreiber der Nebenabteilung der Unterabteilung des südlichen Zweigs der Verwaltung, dem Provveditore in Cattaro unterstellt, betrachtete Belgutai. Er kniff die Augen zusammen. Wahrscheinlich war dies ein Ausdruck von Zweifel, es sah jedoch so aus, als wolle er feststellen, wie die Welt wirkt, wenn man Schlitzaugen hat.
»Ist er Freund oder Feind?«
»Wie meint Ihr das?«
»Wessen Untertan ist er? Der eines befreundeten Herrschers oder eines, mit dem wir im Krieg sind?«
»Sind wir denn jetzt im Krieg?«
»Nein.«
»Also!«
»Aber zu welchem Land, welchem Reich, welcher Republik gehört er? Und was hat er getan, bevor er mit Euch hier erschienen ist?«
»Ich finde, wir haben das nun lange genug im Stehen erörtert. Dürfen wir uns vielleicht setzen?«
Der Schreiber deutete auf Schemel, die vor einem Regal voller Dokumente standen. Belgutai und ich holten uns die Sitzgelegenheiten.
»Woher kommt Euer, uh, Mongole denn nun?«
»Er wurde geboren als Untertan des tatarischen Khans von Astrachan.«
Der Schreiber nickte, als wisse er genau, wovon ich redete. »Astrachan?« sagte er. »Wo ist das?«
»Wenn Ihr nach Osten segelt, vorbei an Konstantinopel und durchs Schwarze Meer«, sagte ich, »dann ...«
»Dorthin können wir nicht fahren.«
»Wenn man könnte.«
»Ich kann Euch aber keine Dokumente ausfertigen, die auf bloßen unbewiesenen Annahmen beruhen. ›Könnte‹ genügt nicht.«
»Ich versuche nur, Euch zu erklären, woher er stammt.«
»Ach so.«
»Schwarzes Meer. Am Nordostrand des Meers gibt es eine Insel oder Halbinsel ...«
»Ihr müßt Euch schon entscheiden, was es ist.«
»Halbinsel, die Krim.«
Der Schreiber
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