Das Labyrinth
Schritten voraus, zog sich an der nächsten Straßenlaterne zusammen und sprang wieder vor.
Die Unter den Linden gelegenen Gebäude wirkten zugleich massiv und zerbrechlich, wie die Architektur in Moskau. Vor der Sowjetischen Botschaft parkten ein paar Trabis. Menschliche Gestalten bewegten sich unter den Bäumen. Ein Mann trat hervor und hob fragend eine Hand mit einer Zigarette. Arkadi eilte vorbei, überrascht, daß ihn überhaupt jemand beachtete.
Er näherte sich dem von Flutlicht angestrahlten Brandenburger Tor und der vertrauten Silhouette der Siegesgöttin auf ihrem Triumphwagen. Hier öffnete sich die Stadt zu einer leeren, von Gras bewachsenen Fläche. Es war kein Park, sondern ein breiter, grüner Streifen, der sich nach Norden und Süden erstreckte. Insekten zirpten. Arkadis erster Impuls war, einen Schritt zurückzutreten. Hier hat einst die Mauer gestanden, dachte er, genau wie man sagt: »Hier haben einst die Pyramiden gestanden.«
Tatsächlich waren es zwei Mauern gewesen, die das Brandenburger Tor eingefaßt und es so zu einer Art absolutem Endpunkt gemacht hatten. Die Mauer hatte einen vier Meter hohen, weißen Horizont gebildet. Runde und rechteckige Wachttürme hatten in einem flachen Niemandsland mit Stolperdrähten, Panzerfallen, Hundebahnen, Tretminen und einem Gestrüpp aus Stacheldraht gestanden. Überall hatten Scheinwerfer geknistert wie elektrische Ladungen.
Die Leere, die durch den Fall der Mauer und den Abbau der Schutzanlagen entstanden war, schien deutlicher spürbar, als ihr Vorhandensein je gewesen war. Ein Bild stieg vor Arkadi auf, das weniger eine Erinnerung als eine Assoziation war. An einem lange zurückliegenden Sommerabend hatte er genau dort gestanden, wo er auch jetzt stand. Er hatte nichts Besonderes wahrgenommen, nur einen Hundeführer mit seinen Tieren, die aufgeregt an der Innenmauer entlangliefen. Der Hundeführer war kein Russe, sondern ein Ostdeutscher gewesen, und die Art, in der er seine Hunde zugleich angetrieben und zurückgehalten hatte, war die gleiche, in der die Wagenfahrerin auf ihrem Piedestal ihre Pferde lenkte. Die Hunde beschnüffelten den Boden, dann liefen sie, an ihren Leinen zerrend, in Arkadis Richtung. Er, der junge Offizier, der nichts Unrechtes getan hatte, hatte plötzlich das Gefühl gehabt, daß sie ihn verfolgten, daß sie den verräterischen Geruch spürten, der von seinem Mangel an ideologischer Begeisterung ausging. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, und die Hunde hatten sich abgewendet, bevor sie in seine Nähe gelangt waren. Seit der Zeit hatte er das Tor nicht mehr anschauen können, ohne in der Silhouette der Quadriga den Hundeführer mit seinen Tieren zu sehen.
Arkadi trat ins Licht und überquerte mit langen, vorsichtigen Schritten den Platz. Auf der anderen Seite lag der Tiergarten, ein Park mit gepflegten Blumenbeeten und beleuchteten Alleen. Er brauchte zwanzig Minuten, ehe er durch den Tiergarten um den Zoologischen Garten herum zum Bahnhof Zoo gelangte.
Viel von dem, an das Arkadi sich erinnerte, war jetzt mit Farbe besprüht. Die Fenster der Wechselstuben waren verschlossen, aber in den verschiedenen Ecken florierte offensichtlich ein reger Drogenhandel. Weiter oben jedoch hatte sich weniger verändert. Dieselben schmalen Gleise liefen an denselben Bahnsteigen unter demselben Glasdach entlang. Noch immer standen rund um die Uhr nutzbare Schließfächer zur Verfügung. In einem von ihnen brachte er das Videoband unter, das er von München mitgebracht hatte.
Auf der Straße unter dem Bahnhof fand er eine Reihe von Telefonzellen. Arkadi entfaltete ein Stück Papier und wählte die Nummer, die Peter Schiller ihm gegeben hatte.
Schiller meldete sich nach dem achten Läuten. Er klang verärgert. »Wo sind Sie?«
»In Berlin. Und Sie?«
»Sie wissen doch, daß ich auch hier bin. Sie haben mich schließlich angerufen, um mir zu sagen, daß ich herkommen soll. Sie wissen, daß dies eine Berliner Nummer ist. Wer ist bei Ihnen?«
Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein. Das Geräusch pflanzte sich in den Träger fort, der das Telefon hielt. »Gut«, sagte Arkadi. »Dann versuche ich es morgen mittag unter derselben Nummer noch einmal. Vielleicht weiß ich dann mehr.«
»Renko, wenn Sie glauben, Sie könnten …«
Arkadi legte auf. Es war ein angenehmer Gedanke, einen wütenden Peter Schiller in der Nähe zu wissen - näher als München, aber nicht zu nahe. Im übrigen hatte Schiller jetzt seinen Paß.
Er ging auf dem Weg,
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