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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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im Winter wochenlang mit ihnen über die Schienen rollten. Tausende starben. Meine erste Frau, meine drei ältesten Jungen. Wer weiß, auf welchen Nebengleisen die Wachen ihre Leichen hinauswarfen? Als die Überlebenden schließlich die Waggons verlassen durften, waren sie in Kasachstan, in Mittelasien. Die Tschetschenen-Republik wurde liquidiert. Unsere Städte erhielten russische Namen. Wir wurden von der Landkarte gelöscht, aus Geschichtsbüchern und Enzyklopädien. Wir verschwanden einfach.
    Erst nach zwanzig, dreißig Jahren kehrten wir nach Grosni und sogar nach Moskau zurück. Wie lebende Geister kamen wir in die Heimat zurück und fanden euch Russen in unseren Häusern vor, russische Kinder, die auf unseren Höfen spielten. Und heute seht ihr uns an und bezeichnet uns als Tiere. Sagen Sie mir, wer ist hier das Tier? Ihr weist mit dem Finger auf uns und nennt uns Diebe. Aber wer ist hier der Dieb? Wenn jemand stirbt, findet ihr bald schon einen Tschetschenen und nennt ihn Mörder. Glauben Sie mir, auch ich würde gern Rudis wirklichen Mörder kennenlernen. Sollte ich heute Mitleid mit euch haben? Ihr verdient alles, was mit euch geschieht. Ihr verdient uns.« Mahmuds Blick wurde noch eindringlicher, dann trübten sich seine Augen, die wie erlöschende Kohlen noch einmal aufgeglüht waren. Seine Finger lockerten sich und gaben Arkadis Kragen frei. Erschöpfung breitete sich in dem Lächeln auf seinem Gesicht aus.
    »Ich bitte um Entschuldigung, ich habe Ihre Jacke zerknittert.«
    »Sie war schon zerknittert.«
    »Trotzdem. Ich habe mich hinreißen lassen.« Mahmud glättete das Revers. Er sagte: »Mir wäre nichts lieber, als wenn Kim gefunden würde. Weintrauben?«
    Beno reichte eine bis zum Rand mit grünen Trauben gefüllte Holzschale nach hinten. Inzwischen konnte Arkadi keine Familienähnlichkeit mehr zwischen ihm, Ali und Mahmud erkennen, sie glichen sich eher wie Angehörige derselben Art - wie Falken einander durch den Schnabel gleichen. Arkadi nahm eine Handvoll Trauben. Mahmud öffnete ein kurzes Taschenmesser mit gebogener Klinge und schnitt sich sorgfältig ein Bündel ab. Während er aß, drehte er die Scheibe herunter, um die Kerne auf den Boden zu spucken.
    »Divertikulitis. Ich darf sie nicht schlucken. Schrecklich, so alt zu werden.«
     
    6
    Polina untersuchte Rudis Schlafzimmer gerade auf Fingerabdrücke, als Arkadi vom Gebrauchtwagenmarkt kam. Er hatte sie noch nie ohne ihren Regenmantel gesehen. Wegen der Wärme trug sie Shorts, hatte ihre Bluse unter der Brust verknotet und das Haar mit einem Tuch zusammengebunden. Mit ihren Gummihandschuhen und dem kleinen Kamelhaarpinsel sah sie aus wie ein Mädchen, das Hausfrau spielte.
    »Wir haben doch bereits nach Fingerabdrücken gesucht.«
    Arkadi ließ seine Jacke aufs Bett fallen. »Abgesehen von Rudis Abdrücken hat die Spurensicherung allerdings nichts gefunden.«
    »Dann haben Sie ja nichts zu verlieren«, sagte Polina fröhlich. »Unser Maulwurf ist in der Garage und sucht nach verborgenen Falltüren.«
    Arkadi öffnete das Fenster zum Hof und sah Minin mit Hut und Mantel in der offenen Garagentür stehen. »Sie sollten ihn nicht so nennen.«
    »Er haßt Sie.«
    »Warum?«
    Polina verdrehte die Augen, dann stieg sie auf einen Stuhl, um Spiegel und Kommode einzustäuben. »Wo ist Jaak?«
    »Uns ist ein weiterer Wagen versprochen worden. Werm er ihn hat, wird er zum Lenin-Pfad-Kollektiv fahren.«
    »Nun, die Kartoffeln werden gerade eingebracht. Sie können Jaak dort gebrauchen.«
    An mehreren Stellen - auf der Haarbürste und dem Kopfteil des Bettes, an der Innenseite der Tür des Medizinschränkchens und unter dem aufgeklappten Toilettensitz - waren die schattenhaften Ovale eingestäubter Fingerabdrücke zu sehen. Andere Abdrücke hatte Polina bereits auf die Objektträger übertragen, die jetzt auf dem Nachttisch lagen.
    Arkadi streifte sich Gummihandschuhe über. »Das ist nicht Ihre Aufgabe«, sagte er.
    »Ihre auch nicht. Ermittler lassen ihre Männer die wirkliche Arbeit tun. Ich bin für diese Tätigkeit ausgebildet worden und besser darin als die meisten anderen. Wissen Sie, warum die Ärzte heute keine Babys mehr zur Welt bringen wollen?«
    »Warum nicht?« Er bereute sofort, gefragt zu haben.
    »Die Ärzte wollen es nicht mehr, weil sie Angst vor Aids haben und absolut kein Vertrauen zu sowjetischen Gummihandschuhen. Sie tragen gleich drei oder vier übereinander.
    Stellen Sie sich vor, wie man ein Baby zur Welt bringen soll, wenn

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