Das Labyrinth
aufzuwachsen?
Endlich kehrte der erste Tschetschene in Begleitung eines Jungen zurück, der nicht viel größer als ein Jockey war. Er hatte ein herzförmiges Gesicht mit geröteter Haut und Augen, die vor Ehrgeiz brannten. Er langte in Arkadis Tasche, zog seinen Ausweis hervor, las ihn und schob ihn wieder zurück. Zu dem Mann mit dem Gewehr sagte er: »Er hat einen Oberstaatsanwalt getötet.« Als Arkadi aus dem Wagen stieg, wurde er mit gewissem Respekt behandelt.
Arkadi folgte dem Jungen zu dem Tschaika, dessen Rücktür für ihn geöffnet wurde. Eine Hand packte ihn am Kragen und zog ihn hinein.
Die alten, für hohe Funktionäre gebauten Tschaikas waren mit verschwenderischem Pomp ausgestattet: gepolsterte Deckenverkleidungen, riesige Aschenbecher, üppige Sessel mit Kordpaspelierungen und selbstverständlich eine Klimaanlage. Reichlich Raum für den Jungen und den Fahrer auf den Vordersitzen und Mahmud und Arkadi hinten. Zweifellos schußsichere Scheiben, dachte Arkadi.
Er hatte Bilder von den mumifizierten Gestalten gesehen, die man aus der Asche von Pompeji gegrben hat. Sie sahen genau aus wie Mahmud, gebeugt und hager, ohne Wimpern und Augenbrauen, die Haut wie graues Pergament. Selbst seine Stimme klang verdorrt. Er drehte sich steif um, wie in einem Scharnier, und hielt seinen Besucher auf Armlänge von sich entfernt, um ihn aus kleinen, teerschwarzen Augen zu mustern.
»Entschuldigen Sie«, sagte Mahmud. »Ich hatte diese Operation: das Wunder der sowjetischen Wissenschaft. Sie fixieren einem die Augen, daß man keine Brille mehr zu tragen braucht. So was wird sonst nirgendwo auf der Welt gemacht. Was sie einem allerdings nicht sagen, ist, daß man danach alles nur noch aus einer Entfernung sieht. Der Rest der Welt verschwimmt.«
»Was haben Sie gemacht?« fragte Arkadi.
»Ich hätte den Arzt umbringen können. Ich meine, ich hätte ihn wirklich umbringen können. Aber dann habe ich darüber nachgedacht. Warum hatte ich mich operieren lassen? Aus Eitelkeit. Dabei bin ich neunzig Jahre alt. Ich habe es mir eine Lehre sein lassen. Gott sei Dank bin ich nicht impotent.« Er hielt Arkadi immer noch fest. »So kann ich Sie erkennen. Sie sehen nicht gut aus.«
»Ich brauche Ihren Rat.«
»Ich glaube, Sie brauchen mehr als nur einen Rat. Ich habe Sie von meinen Leuten aufhalten lassen, um vorher ein paar Erkundigungen über Sie einzuziehen. Ich bin gern gut informiert. Das Leben ist voller Überraschungen. Ich bin in der Roten Armee, der Weißen Armee und der deutschen Wehrmacht gewesen. Nichts läßt sich voraussehen. Wie ich höre, waren Sie Chefinspektor, danach Sträfling und sind jetzt wieder Ermittler. In Ihrem Leben scheint es wirrer als in meinem zuzugehen.«
»Durchaus möglich.«
»Ein ungewöhnlicher Name. Sind Sie mit Renko, dem Verrückten aus dem Krieg, verwandt?«
»Ja.«
»Sie haben unterschiedliche Augen. In dem einen sehe ich einen Träumer und im anderen einen Narren. Wissen Sie, ich bin jetzt so alt, daß ich alles wie zum zweitenmal erlebe, und ich liebe das Leben. Sonst wird man verrückt. Das Rauchen habe ich vor zwei Jahren aufgegeben, wegen der Lungen. Man muß eine positive Einstellung haben, um das zu tun. Rauchen Sie?«
»Ja.«
»Die Russen sind eine pessimistische Rasse. Tschetschenen sind anders.«
»So sagt man.«
Mahmud lächelte. Seine Zähne wirkten übergroß wie die eines Hundes. »Russen rauchen, Tschetschenen brennen.«
»Rudi Rosen ist verbrannt.«
Für sein Alter änderte Mahmud seinen Gesichtsausdruck überraschend schnell. »Er und sein Geld. Ich habe es gehört.«
»Sie sind dabeigewesen«, sagte Arkadi.
Der Fahrer drehte sich um. Obgleich er ziemlich groß war, war er kaum so alt wie der Junge neben ihm, mit Pickeln an den Mundwinkeln, lang über den Kragen fallenden, an den Seiten kurzgeschnittenen Haaren und einzelnen orangeroten Strähnen. Der Sportler aus der Bar des Intourist.
Mahmud sagte: »Das ist mein Enkel Ali. Der andere ist sein Bruder Beno.«
»Nette Familie.«
»Ali liebt mich sehr, deshalb hört er nicht gern derartige Verdächtigungen.«
»Das ist keine Verdächtigung«, sagte Arkadi. »Ich war auch da. Aber vielleicht sind wir ja beide unschuldig.«
»Ich war zu Hause und habe geschlafen. Auf Anordnung meines Arztes.«
»Was, meinen Sie, ist mit Rudi passiert?«
»Bei all den Medikamenten, die man mir gibt, und den Sauerstoffschläuchen sehe ich aus wie ein Kosmonaut und schlafe wie ein Baby.«
»Was ist mit Rudi
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