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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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    Sie haben alle so viel Wodka in sich hineingeschüttet, dachte Arkadi, daß ein Streichholz genügen würde, sie in die Luft zu jagen.
    »Wir haben die Welt gerettet, wißt ihr noch?« schrie Schuksin.
    »Bitte. Warum nicht?« bat Below Arkadi. »Er war ein Mörder«, sagte Arkadi. »Das war der Krieg.«
    Gul fragte: »Glaubst du, daß wir Afghanistan verloren hätten? Oder Europa? Oder auch nur eine einzige Republik?«
    »Ich spreche nicht vom Krieg«, sagte Arkadi.
    »Lies den Brief«, bat Below.
    »Ich spreche von Mord«, sagte Arkadi.
    »Arkascha, bitte! Tu es für mich!« Belows Augen flehten ihn an wie die eines Hundes. »Er wird den Brief jetzt lesen!« sagte er zu den anderen.
    Die Generäle torkelten, formierten sich, scharten sich um ihn. Ein Stoß, und sie fallen in sich zusammen, dachte Arkadi. Wen sehen sie jetzt vor sich? fragte er sich. Ihn, seinen Vater, wen? Dies hätte ein Augenblick des Triumphes sein können, die Erfüllung eines lang ersehnten Kindertraums. Aber die Generäle, so grotesk sie erscheinen mochten, wirkten in diesem letzten Stadium zahnloser Senilität zugleich anrührend menschlich. Er nahm den Umschlag, auf dem in spinnwebfeinen Zügen sein Name stand. Er fühlte sich leicht an, als wäre er leer.
    »Ich lese ihn später«, sagte Arkadi und wandte sich zum Gehen.
    »Auf dem Wagankowskoje-Friedhof«, rief Below ihm nach. »Um zehn Uhr morgens.«
    Oder ich werfe ihn weg, dachte Arkadi. Oder verbrenne ihn.
    Der folgende Tag war der letzte der sogenannten »heißen Ermittlungen«, der letzte Tag, an dem offiziell Bahnhöfe und Flughäfen in Alarmbereitschaft versetzt werden durften, ein Tag der Resignation und des Streits. Arkadi und Jaak waren falschen Hinweisen gefolgt und hatten an allen drei Moskauer Flughäfen im Norden, Westen und Süden der Stadt vergeblich nach Kim gesucht. Jetzt gingen sie einem vierten Hinweis nach und näherten sich über dem Tscherkisowski-Boulevard dem als Ljubertsi bekannten Elendsviertel Moskaus.
    »Ein neuer Informant?« fragte Arkadi. Er fuhr selbst, was immer ein Zeichen für seine schlechte Stimmung war.
    »Völlig neu«, antwortete Jaak.
    »Nicht Julja«, sagte Arkadi.
    »Nicht Julja«, bestätigte Jaak.
    »Hast du dir schon ihren Volvo ausgeliehen?«
    »Das kommt schon noch. Jedenfalls ist es nicht Julja, sondern ein Zigeuner.«
    »Ein Zigeuner!« Mit Mühe blieb Arkadi auf der Straße.
    »Und du sagst immer, ich sei voreingenommen«, sagte Jaak.
    »Wenn ich an Zigeuner denke, denke ich an Dichter und Musiker. Nicht an Informanten.«
    Jaak sagte: »Nun, dieser Bursche würde seinen Bruder verraten, und das ist es, was ich einen guten Informanten nenne.«
    Kims Motorrad war da, seine exotische, mitternachtsblaue Suzuki, eine Skulptur, die zwei Zylinder mit zwei Rädern verband, auf einen chromblitzenden Ständer aufgebockt, hinter einer fünfstöckigen Mietskaserne. Arkadi und Jaak gingen um die Maschine herum und bewunderten sie von allen Seiten, hin und wieder auch einen Blick auf das Gebäude werfend. Die oberen Stockwerke hatten illegal angebaute Balkons. Der Boden war übersät mit aus den Fenstern geworfenen Abfällen, leeren Kartons, zerbrochenen Flaschen. Der nächste Block war etwa hundert Meter weit weg. Es war eine öde Landschaft aus kahlen Gebäuden, in Gräben liegenden Abwasserrohren und betonierten, von Unkraut überwucherten Bürgersteigen, auf denen kein Mensch zu sehen war. Der Himmel war verhangen von jenem Smog, der aus Industriegiften und Verzweiflung zu bestehen schien.
    Ljubertsi verkörperte alles, was Russen fürchteten - außerhalb des Zentrums zu sein, nicht in Moskau oder Leningrad leben zu dürfen, vergessen und unsichtbar -, ganz so, als beginne hier bereits die Steppe, kaum zwanzig Kilometer von der Stadtgrenze entfernt. An Plätzen wie diesem wohnte die große Masse der Bevölkerung, den Weg von der Kindertagesstätte über die Berufsschule zu den Montagebändern der Fabriken, den langen Wodkaschlangen und ins Grab klar vor Augen.
    Die Moskowiter fürchteten Ljubertsi, da die jungen Fabrikarbeiter nicht selten den Zug nach Moskau nahmen, um die privilegierten Stadtkinder zusammenzuschlagen. Es verstand sich fast von selbst, daß die Ljuber sich zu einer Mafia organisiert hatten, deren besonderes Talent darin bestand, Rockveranstaltungen und Restaurants aufzumischen.
    Jaak räusperte sich. »Im Keller«, sagte er. »Im Keller?« Das war das Letzte, was Arkadi hören wollte.
    »Wenn wir in den Keller

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