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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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das Messer an den Hals. Es war ihnen völlig egal, ob das Vieh lebte oder tot war. Ich erinnerte mich noch gut, wie sich mir damals das Herz zusammengezogen hatte. Dieselbe Beklemmung empfand ich auch jetzt, zumal wir in Viehwaggons transportiert worden waren.
    Ein Kind schrie. Es war Otto: Man hatte seine Briefmarkensammlung entdeckt. Ein SS -Mann riss sie ihm aus der Hand. »Nichts mitnehmen!«, herrschte er den Jungen an.
    Otto brach in Tränen aus und versuchte, sein Album zurückzubekommen, aber der SS -Mann hielt es so hoch, dass er es nicht zu fassen bekam.
    Der Offizier eilte herbei und fragte verärgert nach dem Grund des Aufruhrs.
    »Herr Obersturmbannführer! Dieser Jude hat Gepäck dabei«, rief der SS -Mann, starr geradeaus schauend.
    »Gepäck? Das ist ein Album. Ein Briefmarkenalbum. Gehört es diesem Jungen? Unterscharführer, haben Sie denn kein Herz?«
    Der Offizier entriss seinem Untergebenen das Buch und begann umständlich, darin zu blättern. »Sehen Sie nur«, sagte er »Hier haben wir unseren geliebten Führer! Damit wäre doch alles in Ordnung? Von mir aus darf er das Album gern behalten.«
    »Ganz wie Sie wünschen, Herr Obersturmbannführer!«
    Der Offizier reichte dem kleinen Otto gnädig das Album. Der Junge beruhigte sich, wurde jedoch immer noch von Schluchzern geschüttelt. Seine Mutter griff nach der Hand des SS -Offiziers und drückte sie an ihre Wange. »Danke, Herr Offizier«, sagte sie gerührt. »Danke. Sie sind ein guter Mensch.«
    Der Offizier nickte freundlich.
    Mutter und Sohn passierten das Tor. Sie legte ihre Hand auf die Schirmmütze des Jungen. Der presste sein Album mit beiden Händen gegen seinen Bauch. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, und er lachte. Ich sah zu, wie sie in der rechten Reihe verschwanden.
    6
    Wie ich bereits befürchtet hatte, wurde die linke Reihe nach Männern und Frauen getrennt. Die Männer mussten auf die Ladefläche eines Lasters steigen – es war derselbe, mit dem vorher die Verrückten abtransportiert worden waren. Helena umklammerte meine Taille. »Los!«, rief ein Aufseher. »Los!« Ich befreite mich aus ihrer Umklammerung und kletterte auf die Ladefläche. Während wir davonfuhren, sah sie mir nach. Sie sagte nichts, tat nichts, sondern schaute mir nur nach.
    Es hatte angefangen zu schneien. Der Wind trieb Flocken durch die Alleen, und die Lastwagenplane flatterte laut in der Böe. Wir blieben auf dem Lagergelände. Die Männer hier trugen dieselben gestreiften Schlafanzüge wie diejenigen, die die Waggons ausgeladen hatten. Sie sahen uns nicht an. Nach einer kurzen Fahrt hielten wir vor einer der steinernen Baracken. Die Ladeklappe wurde geöffnet. »Raus, raus!« Jedes Mal dieses Geschrei. Doch schon bald sollte ich feststellen, dass freundliches Verhalten vonseiten der Deutschen noch viel gefährlicher war.
    »Ausziehen!«, befahl ein SS -Mann.
    Ich verstand nicht. Besser gesagt, ich wollte nicht verstehen. Blickte ihn fragend an. Er kam auf mich zu und begann gefährlich zu lachen. »Was soll das? Du wagst es, mir in die Augen zu sehen?« Er hob die Hand und wollte mir mit einem gezielten Hieb die Nase brechen. Ich senkte den Kopf – und er traf meine Stirn.
    »Was sagte ich soeben, du Saujude? Ausziehen!«
    Hastig zog ich meine Kleider aus und lobte mich insgeheim für den Diamanten in meinem Anus. Zwei Minuten später standen wir zu etwa hundert Mann in Reihen nebeneinander. Die Schneeflocken schmolzen auf meiner Haut. Meine Ohrenspitzen prickelten bereits, anschließend meine Füße und Finger. Nach und nach drang mir die Kälte durch Mark und Bein und tat richtig weh. Ich versuchte, mich so unauffällig wie möglich zu bewegen, um warm zu bleiben. Zwei SS -Männer rauchten eine Zigarette und warteten geschützt in einem hölzernen Wachhäuschen.
    Mindestens eine halbe Stunde verging. Es stank, ein Geruch, den ich nicht einordnen konnte. Endlich durften wir die Kaserne betreten. Einige Männer waren so steif gefroren, dass sie kaum noch laufen konnten. Die SS -Männer ließen die Hunde auf sie los. Zwei von ihnen stolperten weinend und mit blutigen Waden hinein. Wir wurden zu den Toiletten getrieben. Ich musste schon lange aufs Klo, aber der dumme Edelstein war im Weg und saß fest wie ein Korken in der Flasche. Ein Schiss, und der Diamant würde auf den Fliesenboden kullern. Wegen der krampfhaft angehaltenen Darmgase fühlte ich mich ziemlich aufgepumpt.
    In einem kahlen Betonraum standen links und rechts je acht Toiletten.

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