Das Lachen und der Tod (German Edition)
ich sie kaum zu Gesicht bekommen.
Ich bin ein stolzer Familienmann,
der nicht ohne Frau und Kinder kann.
Aber auch ein Mann der Pflicht und Ehre,
und bis ich dann zurückkehre,
erwarten sie mich fest,
wie ein Vogel in seinem Nest.«
Er holte tief Luft. Ich auch.
» Während ich hier im Lager bin,
ich das Buch ›Mein Kampf‹ verschling.
Der Führer gibt mir großen Halt,
er wird siegen im Osten bald
Für unser heilig Vaterland sind wir hier,
darauf stoßen wir an mit Bier.«
Eine kurze, schwer zu ergründende Pause entstand. Geistesgegenwärtig begann ich zu applaudieren. »Wunderschön! Bravo, bravo!«
Die Häftlinge fielen mit ein. Sie klatschten und trommelten auf die hölzernen Pritschen. Der Kapo strahlte. Er machte sogar eine unbeholfene Verbeugung. Zum Glück hatte mich das Publikum verstanden. Blieb nur zu hoffen, dass der Dichter in den nächsten Tagen ein paar Opfer weniger fordern würde.
15
Der dritte Brief wollte einfach nicht eintreffen. Beunruhigend war auch, dass ich mich so elend fühlte wie nie zuvor. Ich hatte bereits seit Tagen Fieber, und die Kopfschmerzen und der Schwindel wurden immer schlimmer. Ich trat weiterhin auf, aber mit jedem Abend fiel es mir schwerer, die nötige Energie aufzubringen. Trotzdem tat ich es. Ich hatte gelernt, die andächtige, zerbrechliche Stille, den gedämpften Applaus und das müde Lächeln auf den Gesichtern zu lieben.
Eines Abends kehrte ich halb tot in meine Baracke zurück. Armand hatte mich den ganzen Rückweg über stützen müssen. Ich glühte vor Fieber. War ich noch in der Lage, andere zum Lachen zu bringen? Ich wusste, wer mich vertreten musste: Simon Lewenthal, der rote Intellektuelle. Aber der Tag war noch nicht zu Ende. Nachdem die Suppe ausgeteilt worden war, mussten wir alle in unseren Baracken bleiben. Blocksperre. Filzlauskontrolle.
»So heißt das offiziell«, sagte Armand. Er erklärte mir, dass die Kontrolle nur ein Vorwand sei, um eine Selektion vorzunehmen: Waren wir noch arbeitsfähig? Bekam ein Gefangener einen Vermerk, brauchte er am nächsten Tag nicht zu arbeiten. Anschließend hörte man nie wieder etwas von ihm. Vielleicht verschaffte ihm die Krankenbaracke noch eine gewisse Gnadenfrist, aber nur wenige kehrten von dort zurück. Tour Caminne, sagte Armand. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, bis ich begriff, dass das Sprachgenie wieder einmal versuchte, Deutsch zu sprechen. »Durch den Kamin« , sagte ich. Er nickte heftig. Ja, la cheminée: Die Ausgemusterten gingen durch den Schornstein.
Armand musterte besorgt mein zweifellos blasses, eingefallenes, fieberglänzendes Gesicht. Er tauchte zwei Finger in seine Suppe und strich damit über meine unrasierten Wangen. Aus seinem Strohsack holte er eine große Scherbe und begann, mich so schnell und vorsichtig wie möglich damit zu rasieren. Er schnitt mich, was kaum zu vermeiden war. Die Blutstropfen verrieb er auf meinen Wangen, auf meiner Stirn, auf meinen Ohren, auf meinem Hals, überall. Anschließend rasierte er sich ebenfalls.
Die Atmosphäre war angespannt. Ein paar Pritschen weiter ohrfeigten sich zwei Gefangene. Ein bis aufs Gerippe abgemagerter Mann mit einer verschorften, fast durchsichtigen Haut ließ die Arme kreisen, als mache er seine Abend gymnastik. Sie alle bemühten sich um eine gesunde Ge sichtsfarbe. Ich sah auch, wie eine Gruppe Gefangener übte, aufrecht, erhobenen Hauptes und mit forschem Blick zu laufen. Sie korrigierten sich gegenseitig. Ich lächelte über den tödlichen Ernst, mit dem dieses Spiel gespielt wurde. Aber nicht lange.
Schlomo trug seinen Tisch hinaus, neben den Eingang zur Baracke. Hatte er eine Nachricht von Helena erhalten? Nein, ich musste jetzt nur an mich denken. Kurz darauf kamen zwei SS -Männer mit Listen. Wir mussten uns ausziehen. Mit einer herablassenden Geste wurden wir einer nach dem anderen zu dem Tisch mit den Listen gewinkt. Einige in der Schlange murmelten Gebete. Einer der Deutschen, ein Arzt, stellte ein paar Fragen und untersuchte die Häftlinge kurz mit einem Stethoskop. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er sich von dem künstlich erweckten Anschein von Gesundheit täuschen ließ. Anschließend musste der Häftling weitergehen. Der Arzt notierte etwas. Die Nummer auf dem Arm? War das ein heimliches Todesurteil?
Ich kam dem Tisch stetig näher. Mit jedem Schritt wuchs meine Nervosität. Selbst nach den öffentlichen Hinrichtungen hatte ich mich noch in der Illusion gewiegt, ein Gefangener könne
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