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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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sein Schicksal ein Stück weit selbst kontrollieren. Bis jetzt. Ich holte tief Luft. Einen neutralen Blick aufsetzen! Nur was war unter diesen Umständen schon neutral?
    Jetzt war ich an der Reihe. Zögernd trat ich vor. Neben dem Tisch stand Schlomo. Der Arzt sah mich an oder besser gesagt durch mich hindurch, als stünde zwischen ihm und mir ein Röntgenapparat.
    »Mund auf!«
    Ich öffnete den Mund. Ebenso routiniert wie desinteressiert betrachtete er meine Zunge.
    »Fieber?«, fragte er.
    Ich schüttelte rasch den Kopf und verschwieg ihm meinen Durchfall.
    Er musterte mich länger als andere. Das beunruhigte mich. Er legte das kalte Stethoskop auf meine Brust. Ich musste ein paar Mal tief durchatmen. Der Arzt sah seinen Kollegen an, sie tauschten einen einvernehmlichen Blick. Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg, konnte mich aber gerade noch beherrschen.
    »Das ist ein Neuankömmling«, sagte Schlomo. »Ein kräftiger Kerl. Ein Holländer.«
    Der Arzt griff nach meinem Unterarm und las meine Nummer. Schlomo flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der SS -Mann schürzte die Lippen und nickte kurz. Mit einer gelangweilten Geste winkte er mich weiter.
    Ich zog mich wieder an und schaute mich nach Schlomo um, doch der erwiderte meinen Blick nicht.
    Sobald die SS -Leute verschwunden waren, fragte jeder jeden, ob seine Nummer notiert worden sei. Hatte irgendjemand etwas gesehen? Jeder verneinte, nein, du nicht, jeder hatte die Untersuchung bestanden, obwohl jeder wusste, dass das nicht stimmte.
    »Iss!«
    Schlomo zeigte ungeduldig auf ein Stück Brot mit Margarine und Wurst. Ich nahm einen Bissen und kaute langsam, konnte mich kaum noch auf meinem Stuhl halten.
    »Was hast du dem Arzt gesagt?«, fragte ich.
    »Das ist nicht so wichtig.«
    »Ich bin nur neugierig.«
    »Dein Leben gegen eine gute Flasche Wein. Französischer Rotwein.« Er grinste. »Ein schlechter Tausch.«
    »Ja, eine Flasche Milch hätte es auch getan.«
    Er lachte.
    »Wo kommt der Wein eigentlich her?«
    »Aus Kanada.«
    Aus Kanada. Natürlich.
    »Du könntest Jude sein«, sagte ich.
    Er musste laut lachen. »Ich bin katholisch, Holländer. Katholiken können ebenfalls schachern, vergiss das nicht.«
    Ich stand auf. »Ich muss auftreten«, sagte ich.
    »Jetzt?«, fragte Schlomo erstaunt.
    »Jetzt erst recht.«
    Doch schon bevor ich die Tür erreicht hatte, sackte ich zusammen. Vor meinen Augen verschwamm alles.
    Erst am nächsten Morgen kam ich wieder zu Bewusstsein. Auf meiner Pritsche. Armand zog sich gerade an. Er erzählte mir, Schlomo habe mich hergebracht, die komischen Einlagen seien gestern ausgefallen.
    Beim Appell konnte ich mich bloß mit größter Anstrengung auf den Beinen halten: Das Fieber war zurückgekehrt. Schlomo verlas gefasst die Namen derjenigen, die aussortiert worden waren. Es waren fünfzehn. Einer von ihnen trat aus der Reihe. Der Kapo schrie, aber er stellte sich taub. Am Zaun drehte er sich noch einmal um, sah uns unbewegt an, zog Hemd und Jacke hoch und ließ sich rückwärts in den Stacheldraht fallen.
    16
    Die Flammen aus dem Krematoriumsschlot färbten die Morgendämmerung orangerot. Es war völlig windstill, sodass der grauschwarze Qualm über dem Lager hängen blieb. Asche rieselte wie grauer, fettiger Schnee auf den harten Sandboden, auf die Barackendächer und die Äste der stattlichen Pappeln. »Der einzige Weg aus dem Lager führt durch den Schornstein«, lautete ein geflügeltes Wort. Den Menschen, die heute mit einem Transport angekommen waren, blieb nicht einmal die Hoffnung.
    Ich war erleichtert, dass ich nicht arbeiten musste. Schlomo hatte mich nach dem Morgenappell zur Krankenbaracke ge schickt. »Es muss sein, Holländer«, sagte er. »Sonst stirbst du mit Sicherheit.« Er umarmte mich und war sichtlich gerührt. Dieser Abschied machte mir Angst, denn er schien nicht auf meine Rückkehr zu hoffen.
    Ich befand mich im steinernen Herzen des Lagers – dort, wo die Kasernengebäude, die Kommandantur, die SS -Baracken und die große Lagerküche mit ihren fünf Schornsteinen waren. Vor der Baracke mit der Nummer 12, dem Krankenrevier, wartete eine lange Schlange. Ich reihte mich ein. Vor mir stand ein vornübergebeugtes Gerippe mit geschwollenen Beinen und vor dem Brustkorb verschränkten Armen. Am Rand saß ein Mann, der vor Fieber zitterte. Seine Oberschenkel waren genauso dick wie seine Unterschenkel und seine Kleider so schmutzig und verschlissen, dass man sie nicht einmal mehr als Lumpen bezeichnen konnte. Wieder

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