Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
Vom Netzwerk:
ein anderer hatte anstelle eines Fußes nur noch einen blutigen Klumpen. War ihm eine Bahnschiene oder Gleisschwelle daraufgefallen? Viele Kranke wurden nach einer kurzen Untersuchung wieder zurückgeschickt. Wie schlimm musste es um einen Häftling bestellt sein, damit er aufgenommen wurde?
    Endlich war ich an der Reihe. Der Häftlingsarzt, der ebenfalls eine gestreifte Lageruniform trug, saß an einem kleinen Tisch.
    »Fieber?«, fragte er.
    »Ja. Und Schwindel, Kopfschmerzen und Schüttelfrost.«
    »Fieber und Schüttelfrost«, wiederholte er ungerührt. Er stand auf, fühlte meinen Puls und inspizierte aufmerksam meine Zunge.
    »Noch einer«, sagte er zu einem Pfleger, einem einfältigen Jungen mit traurigen Augen und abstehenden Ohren. Er schickte mich weiter. »Aufnahme. Block neun.«
    Ich musste zu einem weiter hinten gelegenen Gebäude gehen. Der Pfleger eilte mir voraus und öffnete die Tür. Wir liefen durch einen kalten Gang und über steinerne Treppen hinab in den Keller. Unten betrat ich einen Raum, in dem Hunderte von röchelnden, stöhnenden, wimmernden Patien ten lagen. Ein beißender Gestank nach Kot, Urin und Eiter hing in der Luft. Die Kranken lagen in hintereinander aufgereihten Stockbetten, die durch eilig hochgezogene Mauern notdürftig voneinander getrennt waren. In jedem Bett erkannte ich zwei, manchmal drei oder vier Leiber, Fuß an Ge sicht und umgekehrt. Der Pfleger zeigte auf die sanitären Anlagen neben der Tür: Sie bestanden aus zwei Zinkeimern, deren Boden mit Chlorkalk bestreut war.
    Mir wurde die untere Etage eines an der Wand stehenden Stockbetts zugewiesen, direkt unter einem geborstenen Kellerfenster. Der Strohsack war aufgeplatzt und stank – das Stroh mit Durchfall besudelt. Der Pfleger pflückte die schmutzigsten Halme heraus und legte den Strohsack gerade hin. Ich musterte das Stroh. Läuse. Zu Tausenden. Ich kletterte über einen kranken Leidensgenossen hinweg und legte mich vorsichtig hin. Der Pfleger deckte mich mit einer grauen Rosshaardecke zu und verschwand. Ich wusste, dass es besser war, sich nicht zu kratzen.
    Ich musterte den Mann neben mir. Das war kein Mann mehr, sondern nur noch ein stinkendes Gerippe. Seine ver schorften Füße mit den dunkelgelben, brüchigen Nägeln stanken nach Käse. Nach schwitzendem altem Käse. Die straff über seine Schulterblätter gespannte Haut war wund, rissig und voller Läusebisse. Er richtete sich langsam auf und wandte sich mir mit erloschenem Blick zu.
    »Wasser …«, flüsterte er, ohne die Lippen zu bewegen.
    »Hab kein Wasser«, sagte ich.
    Er starrte mich weiterhin an wie ein Blinder. Vielleicht sah er tatsächlich nichts mehr. Dann legte er sich wieder hin. Ich begriff, warum er so stank: Er hatte eine entzündete Wunde am Arm, die provisorisch mit Löschpapier verbunden war, durch das der Eiter tropfte. Ich rutschte näher zur Wand, zu den Spinnweben und dem Schmutz, weg von diesem lebenden Toten.
    Ich starrte auf die Unterseite der oberen Etage, streckte die Arme und fuhr mit den Fingerspitzen über die losen, rauen Bretter. Noch einer hallte es in meinem Kopf wider. Welche Krankheit hatte ich mir eingefangen? Ich schob einen Ärmel hoch und beugte mich über das Gerippe, um im fahlen Schein einer Glühbirne meine Haut zu mustern. Zum ersten Mal sah ich rosa Verfärbungen. Ich schloss die Augen. Erst jetzt begriff ich Schlomo und verstand, warum ich dem Block der Todgeweihten zugewiesen worden war. Ich hatte Fleckfieber.
    Ich versuchte zu schlafen, ohne Erfolg. Ich versuchte, mir einen Witz auszudenken. Ebenfalls ohne Erfolg. Ich hatte so hohes Fieber und mir war so elend, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Das Gejammer, der Gestank nach Kot und Wundfäule setzten mir immer stärker zu.
    Wieder sah ich Helena vor mir. Wenn ich nicht jede Stunde an sie dachte, dann doch jede zweite. Stets in dem verzweifelten Bemühen, alldem hier zu entfliehen. Natürlich war das verrückt, aber das war mir egal. Helena war eine Luftspiegelung, an die ich mich klammern konnte.
    Draußen war es schon hell. Ich musste kurz eingedöst und wieder aufgewacht sein, weil es mich juckte. Oder weil das Gerippe einen Albtraum hatte. Es stöhnte und murmelte etwas Unverständliches. Außerdem zuckte es. Kurz hatte ich Mitleid mit diesem hilflosen Geschöpf. Ich wollte es wecken, zog meine Hand jedoch zurück. Konnte sein Albtraum schlimmer sein als das hier?
    Wenige Meter von meiner Pritsche entfernt, stand ein schwarzer Kachelofen

Weitere Kostenlose Bücher