Das Lachen und der Tod (German Edition)
einer Woche endlich wieder ein zusammengefaltetes Blatt Papier auf Schlomos Tisch lag, ballte ich jauchzend die Fäuste. Der Pole wandte sich ab, war erneut gerührt.
Lieber Ernst,
ich habe mich sehr über deine Nachricht gefreut. Du hast mich zum Lachen gebracht. Ich zähle die Tage, bis wir wieder zusammen sein können.
Alles Liebe
Helena
So kurz? Ich betrachtete ihre Handschrift. Sie war alles andere als schwungvoll, sondern ungleichmäßig und zittrig.
Liebe Helena,
ich hoffe, es geht dir gut. Nach deinem letzten kurzen Brief habe ich da so meine Zweifel. Wie dem auch sei: Noch nie wusste ich Zementsäcke so sehr zu schätzen! Ich trete hier in einer Baracke vor den Häftlingen auf. Am liebsten würde ich den Appellplatz mit einer Zahnbürste sauber fegen, um dich hier als mein Publikum begrüßen zu dürfen. Aber ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es bald ausreichend Gelegenheit geben wird, dich so richtig zum Lachen zu bringen.
Ich verfluche dieses Lager. Weil es uns gewaltsam trennt. Wie weit wir wohl voneinander entfernt sind? Ein paar Hundert Meter? Ich vermisse dich. Ich vermisse dich bereits seit dem Tag unserer Ankunft. Ich mache jetzt Schluss, Helena, denn sonst werden meine Worte so süß, dass sie fast schon wieder ungenießbar sind.
Schreib bitte zurück. So schnell wie möglich.
Ernst
Ich fragte mich, ob ich unter anderen Umständen auch so mitteilsam gewesen wäre. Wahrscheinlich nicht. Dann nämlich hätte ich die Worte aus ihrer Perspektive gelesen und mich bestimmt dafür geschämt.
An diesem Tag eröffnete ich meine Vorstellung mit einem Lied. Bisher hatte ich nicht singen wollen, weil mir ein Klavier oder eine Geige als Begleitung fehlten, doch nun änderte ich meine Meinung.
Ich habe mich bei einem Walzer verliebt
Bei dem Walzer, dem Walzer mit dir
Weil es sonst in der Welt nichts Schöneres gibt
Als den Walzer, den Walzer mit dir
Der Dreivierteltakt
Hat mein Herz gepackt
Und das schlägt dabei kräftig in mir
Ich habe mich bei einem Walzer verliebt
Bei dem Walzer, dem Walzer mit dir
Ich wollte an diesem Abend keine Witze hören, sondern erfahren, was die anderen dazu bewog, durchzuhalten. Warum hat das Leben einen Sinn? Ich betrat den »Saal« und fragte nach ihren Beweggründen. Weil der Kapo dabei war, durften sie sie mir auch ins Ohr flüstern.
»Ich will meinen Sohn wiedersehen.«
»Ich will meine Frau wiedersehen.«
»Ich will meine Frau und meine vier Töchter wiedersehen.«
»Ich will den Familiennamen Rosenblatt weitergeben.«
»Ich will mich mit meinem Vater versöhnen.«
»Ich will Vater werden.«
»Ich will mein Studium beenden.«
»Ich habe Angst vor dem Tod.«
»Ich will Zeugnis ablegen.« (Ein geflüsterter Wunsch.)
»Ich will ein Buch schreiben.«
»Ich will Rache.« (Ein geflüsterter Wunsch.)
»Ich gönne ihnen nicht den Triumph, sich über meinen Tod zu freuen.«
»Ich möchte noch einmal den Geschmack von Schokolade genießen.«
»Ich will nicht als Jungfrau sterben.« (Ein geflüsterter Wunsch.)
Mit einer solchen Offenheit hatte ich nicht gerechnet.
»Kann jemand ein Gedicht auswendig?«, fragte ich.
Keine Reaktion.
Dann trat der Kapo vor. Es war derselbe, den ich als Charlie Chaplin auf den Arm genommen hatte.
»Ich«, rief er. »Ich weiß ein Gedicht!«
»Sie mögen Lyrik«, konstatierte ich nüchtern.
»Jawohl!«, sagte er stolz. »Ich dichte selbst.«
Er raschelte mit ein paar Blättern. Nach meinem Chaplin-Sketch hatte ich von verschiedenen Seiten so einiges über ihn gehört: Er wettete gern mit SS -Leuten, wie lange ein Jude unter Wasser bleiben könne. Wenn so ein armer Kerl mit dem Kopf in eine Regentonne gedrückt wurde und ertrank, während eine bis vierzig zählt, gewann der SS -Mann. Viele Gefangene staunten, dass dieser Kapo während meines Sketches so nachgiebig gewesen war. Aber ich verstand das sehr gut: Mit Ernst Hoffmann konnte er es aufnehmen, nicht aber mit Charlie Chaplin.
Der Dichter stellte sich vor den Saal, ohne mich weiter zu beachten. »Ich wohne in Hannover!«, verkündete er. »Die deutschen Städte werden bombardiert. Ich habe Angst um meine Frau und meine Kinder. Ich habe Angst wie ein Wolf in der Nacht.«
Er legte eine kurze Pause ein. Vielleicht hatte er nach seiner ungewöhnlichen Metapher auf Applaus gehofft, aber der Saal schwieg.
»Meine Frau heißt Gretchen. Ich habe eine sechsjährige Tochter namens Gaby und einen fünfjährigen Sohn namens Wolfgang. Wolfi. Wegen des Krieges habe
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