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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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der komischen Einlagen und Schlomos Extrarationen hinterließen die Tage immer tiefere Spuren.
    Es war ein nasser Frühling. An einem der Regentage wurde ich einem Eisenbahnkommando zugeteilt, das Gleise verlegte und reparierte. Körperliche Schwerstarbeit, von allen gefürch tet. Die Gleisschwellen wogen achtzig Kilo und rochen nach Teer und Harz. Sogar zu viert schafften wir es kaum, eine solche Schwelle hochzuheben.
    Schweinz blieb Schweinz. Seine Stimme war schon ganz heiser vom vielen Schreien, und er hatte einen hartnäckigen, bellenden Husten. Neben Armand arbeitete ich noch mit zwei Osteuropäern zusammen: mit Laszlo, einem jungen Ungarn, der nur wenig Deutsch und Russisch sprach, und mit Oleg, einem schwermütigen, drahtigen Russen. Laszlo sagte, Oleg sei ein Kriegsgefangener, ein Korporal der Roten Armee. Er war vor ein paar Monaten gefangen genommen worden. Für Oleg war jeder Tag ein Geschenk, da deutsche Kriegsgefangene von den Russen meist, ohne zu zögern, liqui diert wurden.
    Gemeinsam schleppten wir die durch Schlamm und Nässe zusätzlich beschwerte Gleisschwelle an ihren Platz. Ich fühlte mich, als säße meine Schulter in einem Schraubstock. Beim Laufen stieß die Schwelle immer wieder gegen meine Schläfe und mein Ohr, was meine Kopfschmerzen verschlimmerte. Regen tropfte mir in den Nacken und lief meinen Rücken hinunter. Ich hatte einen schlechten Tag und musste mich anstrengen, meine Beine, die wie aus Watte waren, voreinanderzusetzen. Wieder dachte ich an Helena. Sie stand lächelnd am Rand. Es ging nicht darum, dass ich überlebte, sondern dass wir überlebten. Sie verschwand wieder. Ohne sie kehrten Kälte, Erschöpfung und Schmerzen mit voller Wucht zurück.
    Ich taumelte. In höchster Not biss ich mir so fest auf die Zunge, dass ich Blut schmeckte. Das hatte ich von dem Russen gelernt. Der plötzliche, alles durchdringende Schmerz entfachte für einen kurzen Moment neues Feuer in meinem unterkühlten Körper – so wie ein Luftzug glimmendes Holz zum Brennen bringt. Diese letzte Energiereserve half mir, auf den letzten Metern noch einmal meine ganze Kraft zusammenzunehmen. Nach einem kurzen »Eins, zwei, drei« warfen wir die Schwelle aufs Gleisbett, das aus Lehm, Schotter und Steinen bestand. Mein Brustkorb fühlte sich an, als wäre ein Laster darübergefahren. Anschließend kehrten wir zu dem Stapel Gleisschwellen zurück: mechanisch, aber zügig genug, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
    Gegen Ende des Vormittags bat Oleg einen SS -Wachmann um eine Pinkelpause. Sie wurde ihm gewährt. Beim Besuch der Latrine bekamen die Häftlinge einen sogenannten »Scheißbegleiter« zur Seite gestellt, meist einen Vorarbeiter, einen Hand langer des Kapos.
    »Begleitung?«, fragte Oleg mit gesenktem Kopf.
    »Ruski? Stalin?«, wollte der SS -Mann wissen.
    Oleg nickte.
    »Nein, keine Begleitung.«
    Der Russe trottete zur weiter hinten gelegenen Latrine – einer tiefen Grube, über die ein paar Bretter gelegt worden waren hinter einem Holzverschlag. Er hatte die Hälfte des Weges gerade erst zurückgelegt und war noch keine dreißig Meter gelaufen, als der SS -Wachmann seinen Karabiner anlegte und schoss. Er traf Oleg in den Rücken, zwischen die Schulterblätter. Der Russe stürzte, bewegte sich aber noch. Der SS -Mann lief auf ihn zu, stieß seinen Gewehrlauf in Olegs Nacken und drückte erneut ab. Anschließend drehte er die Leiche mithilfe seiner Stiefelspitze auf den Rücken. »Hast du das gesehen, Kapo?«, rief er. »Dieser Häftling wollte fliehen! Nummer 170411. Du bist mein Zeuge.«
    »Jawohl«, erwiderte Schweinz und hob den Daumen.
    Wir standen zu dritt neben der Bahnlinie. Olegs Schicksal berührte mich kaum.
    »Der Russe ist nicht grundlos gestorben«, bemerkte Armand. »Das Vereiteln dieser ›Flucht‹ bringt den SS -Leuten zwei Tage Sonderurlaub ein.«
    Ich trat jeden Abend auf. Es kam kein zweiter Brief von Helena. Da jegliches Lebenszeichen ausblieb, gab ich mich nach jedem Arbeitstag der Verzweiflung hin, um erst bei meinem Auftritt wieder neuen Lebensmut zu schöpfen. Der fand inzwischen vor vollen Sälen statt, was allerdings nicht weiter schwer war: Mein Publikum konnte nirgendwo sonst hin, die Menschen aßen und schliefen in meinem Vorführsaal. Von Schlomo erfuhr ich, dass andere Baracken ebenfalls mit solchen Aufführungen begonnen hatten, sogar in Gegenwart der Kapos. Aber die meisten Blockältesten waren Schufte, die sich von jedem Witz angegriffen fühlten.
    Als nach

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