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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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mit einer verrußten Luke. Ein Häftling sorgte mit einem Paar Holzschuhen dafür, dass das Feuer nicht ausging. Wahrscheinlich stammten die Pantinen von einem Toten.
    »Doktor?«
    Überrascht blieb er stehen und sah sich nach der holländischen Stimme um. Jetzt war ich mir sicher: Es war der Hausarzt aus dem Viehwaggon, dem ich meinen Wintermantel geliehen hatte. Doktor Levi. Ohne grauen Backenbart, ohne Elfenbeinspazierstock, aber mit Brille.
    »Meneer Hoffmann«, sagte er leise. »Ich habe Sie gar nicht erkannt.«
    Ich versuchte, mich aufzurichten. »Ich dachte, Sie wären …«
    »… tot«, vervollständigte er freundlich meinen Satz. Er ging in die Hocke und legte die Hand auf den Rand der Pritsche. »Hier herrscht großer Ärztemangel. Ich konnte sofort anfangen. Fieber?«
    »Ja. Ich glaube, es ist Fleckfieber.«
    Er fühlte meine Stirn und inspizierte kurz meine Zunge. Er ließ sich nichts anmerken, leugnete die Diagnose aber auch nicht.
    »Wie lange liegen Sie hier schon?«
    »Seit heute Morgen.«
    »Haben Sie irgendetwas bekommen? Tabletten?«
    »Nein.«
    »Ich kann Ihnen ein halbes Aspirin geben, andere Medikamente haben wir nicht. Ich versuche, etwas zu organisieren.«
    Ich nickte.
    »Kennen Sie Helena?«, fragte ich.
    »Helena, Ihre Frau?«
    »Sie war mit uns im Waggon. Dunkle, lange Haare.«
    »Meinen Sie die junge Frau, die die Hatikva gesungen hat?«
    Ich schöpfte neue Kraft. »Haben Sie sie auch gehört?«
    »Sie sang ganz leise, aber ich habe ihr voller Bewunderung zugehört.«
    »Haben Sie sie gesehen? Hier im Lager?
    Schweigen.
    »Ich weiß nicht, wie es ihr inzwischen geht. Sie müssen sich ausruhen. Ich werde versuchen …«
    Ich packte ihn. »Ich muss es wissen, Doktor. Ich muss es wissen.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts dazu …«
    »Sie verstehen das nicht! Ich muss es wissen.«
    Er sah mich traurig an. »Ich habe in mehreren Krankenbaracken zu tun. Auch in Frauenbaracken.«
    »Sie haben sie gesehen.«
    »Sie wissen, dass überall im Lager Fleckfieber grassiert.«
    »Haben Sie sie gesehen?«
    »Ja.«
    »Sie lebt noch. Sie lebt noch, oder?«
    Ich sah seine Traurigkeit und Niedergeschlagenheit. Ich drehte mich um, schrie mit offenem Mund, heiser und stumm, und schlug mit den Fäusten gegen die Steinmauer. Dann ließ ich mich zurückfallen und döste ein.
    An die folgenden Tage vermag ich mich kaum zu erinnern. Meine Abwehrkräfte schienen aufgebraucht zu sein. Ich hatte die Krätze. Sie juckte noch schlimmer als die Läuse. Blut und Durchfall tropften durch die Bretter nach unten auf meine Decke. Ich stellte es fest, mehr nicht.
    Ich sah sie lächeln wie die Leiche in der Baracke an einem meiner ersten Abende. Sie stand strahlend vor mir. Ich spürte nichts mehr, nicht einmal Schmerzen oder Jucken. Während ich auf sie zuging, erkannte ich, wie sie langsam verblasste, immer magerer und faltiger wurde, bis sie als alte Muselfrau vor mir stand. Ich umarmte sie, doch sie reagierte nicht.
    Ich schrak schweißnass aus dem Schlaf. Es war Nacht – zumindest fiel kein Licht durch das kleine Fenster. Das grelle Licht einer Taschenlampe glitt über die Wände der Baracke. Ich erstarrte. Plötzlich bemerkte ich einen Mann in einem weißen Kittel, der sich über das Gerippe beugte. Er hatte eine Spritze in der Hand. Auf einmal war mein ganzes Elend vergessen. Er schob den Schlafanzug des Kranken hoch, rammte ihm die Nadel in die Brust und drückte den Kolben langsam herunter. Ein Medikament? Mitten ins Herz? Der Arzt ging weiter.
    Aufgrund des Fiebers war mir, als sähe ich alles wie aus weiter Ferne wie durch ein umgekehrtes Fernglas, aber dieser Vorfall machte mich noch nervöser. Ich konnte nicht mehr schlafen. Vorsichtig berührte ich den Fuß des Gerippes. Er fühlte sich steif und kalt an. Nach einiger Zeit kam wieder eine Gestalt durch die Reihen, diesmal mit einem Schubkarren. Ich folgte ihr mit meinen Blicken. Sie rüttelte an einem Körper. Er bewegte sich. Die Gestalt lief weiter, schaute nach links und nach rechts. Wonach suchte sie? Bei meiner Pritsche blieb sie stehen. Ich gab vor zu schlafen. Sie schüttelte das Gerippe. Es reagierte nicht. Die Gestalt beugte sich vor und lauschte, ob der Kranke noch atmete. Anschließend packte sie die Knöchel des Gerippes und wuchtete es auf ihren Schubkarren. Es war ein Leichenträger! Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. Ich starrte dem Leichenträger mitten ins Gesicht. Er lächelte verlegen, nickte und ging weiter. Er nahm noch

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