Das Laecheln der Chimaere
Fest, über das er in seiner Kindheit und Jugend fast nichts gewusst hatte.
Weihnachten hatten sie in Lusanowka nicht gefeiert. Ostern, ja, das hatte es gegeben. Zu Ostern begann am Meer die Fischfangsaison. Zu Ostern war die Kirche von St. Nikola in den Dünen brechend voll mit alten Frauen und Männern, mit Witwen, die ihre Männer im Krieg verloren hatten und einfach mit Menschen, die die Besatzung und die schlimme Kriegszeit überlebt hatten.
Damit die Jugend nicht aus Neugier nachts in die Kirche ging, wurde im Klub der Eisenbahner zu Ostern immer ein bunter Abend veranstaltet. Man zeigte einen interessanten Film, und anschließend wurde getanzt bis zum Morgen.
Aber zu Weihnachten gab es nichts dergleichen. Weihnachten gab es in jenen Jahren überhaupt nicht. Alles, was Saljutow aus seiner Kindheit von diesen ersten Januartagen in Erinnerung geblieben war, war der beißende, durchdringende Wind. Vom Meer her blies er einem ins Gesicht, von der fauligen Chadshibejski-Bucht in den Rücken.
»Sag ihr, ich komme gleich«, erwiderte er. »Und sag ihr danke. Es ist sehr lieb von ihr.«
9
Die Ergebnisse, die das Labor am ersten Tag nach den Weihnachtsferien lieferte, waren alles andere als beeindruckend. Der Pathologe, den Kolossow anrief, teilte mit, er habe den Obduktionsbericht bereits am Morgen gefaxt. Nikita fischte dieses wissenschaftliche Werk aus der eingegangenen Post heraus und las es in wenigen Minuten durch. Enttäuscht stellte er fest, dass darin nichts Neues stand. Selbst den Zeitpunkt des Todes hatte der übervorsichtige Experte nur sehr vage umrissen: zwischen acht und neun Uhr abends.
Das ballistische Gutachten über die aus Teterins Schädel entfernte Kugel kam nur zu einem unumstößlichen Ergebnis: Die Kugel stammte aus einer Pistole. Aber das wusste Kolossow auch ohne Experten. Die Kugel war stark verformt gewesen, und nach Meinung der Ballistiker war es unmöglich, die Waffe zu identifizieren, aus der der Schuss abgegeben worden war.
Der Experte versprach, dass die im »Roten Mohn« beschlagnahmten fünf Pistolen vom Typ TT, die den Männern des Sicherheitsdienstes gehörten, und auch die umgebaute Gaspistole Maiskis sorgfältig anhand der Datenbank überprüft und abgefeuert werden würden. Für mehr konnte er nicht garantieren – die Kugel sei in diesem Fall keine Hilfe.
»Merkwürdig, Nikita Michailowitsch, dass Sie die Hülse nicht gefunden haben«, bemerkte der Experte unzufrieden. »Sie muss dort gewesen sein, Sie haben nur nicht richtig gesucht«
Mit diesem unverdienten und kränkenden Vorwurf ging das Telefonat zu Ende, und Kolossows Laune war vom frühen Morgen an auf dem Nullpunkt. Die verschwundene Hülse war ja das Erste gewesen, was ihn selber an diesem scheinbar so durchschnittlichen Mordfall gestört hatte. Aber es war tatsächlich keine Patronenhülse in der Toilette gewesen. Und das konnte nur zwei Gründe haben: Entweder war die Hülse in der Kanalisation verschwunden, weil eine bizarre Flugbahn sie in das Toilettenbecken gelenkt hatte, oder der Mörder hatte sie vom Tatort entfernt. Aber das wiederum bedeutete, die Pistole, aus der man Teterin in den Hinterkopf geschossen hatte, war noch in seinem Besitz.
Kolossow wollte schon wieder zum Telefon greifen und seinerseits den arroganten Experten beschuldigen – wieso war das Gutachten über die Schmauch – und Fettspuren an den im Kasino beschlagnahmten Waffen noch nicht fertig? Aber nachdem er einen Moment nachgedacht hatte, kam er zu dem Schluss, dass eine derartige Beckmesserei kleinlich und seiner nicht würdig war.
Alle diese Überlegungen und Empfindungen ließen die Zeit bis zum Mittagessen fast unbemerkt vorüberfliegen. Zwischendurch rief der Leiter des Untersuchungsgefängnisses, in dem Maiski inhaftiert war, einige Male an. Er machte darauf aufmerksam, dass die Frist für den Verdächtigen heute ablief. Kolossow bat darum, nicht vorschnell Anklage zu erheben, sondern die Untersuchungshaft unter einem formalen Vorwand auf zehn Tage zu verlängern: wegen unerlaubten Tragens und Aufbewahrens einer Feuerwaffe. Seine Bitte wurde erfüllt, und darüber hinaus versprach man ihm sogar, einen Zellengenossen für Maiski zu suchen, der ihm etwas auf den Zahn fühlen sollte.
Kolossow fiel ein Stein vom Herzen. Ehrlich gesagt, hatte er noch keine konkreten Pläne, was diesen Maiski anging. Was den Mord an Teterin anging, übrigens auch nicht.
Er hatte höllische Kopfschmerzen. Und Hunger. Appetit auf ein ordentliches
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