Das Laecheln der Chimaere
Kolossow zusammen die Bänder mit den Videoaufzeichnungen anzusehen und zu kommentieren.
Auch ein wichtiges Fax war eingetroffen. Die Untersuchung von Peskows Pistole hatte ergeben, dass aus dieser Waffe erst kürzlich Schüsse abgefeuert worden waren – davon zeugten die Spuren von Schmierfett und Pulvergasen.
»Entschuldige, ich werde erwartet«, sagte Kolossow zu Katjal, als er sie vor dem Präsidium absetzte.
»Auf Wiedersehen, Nikita«, antwortete sie, »danke für das Essen und deine Gesellschaft. Ich habe mich wirklich gefreut, dich wieder mal zu sehen. Sehr sogar.«
Sie verschwand hinter einer Tür. Kolossow überlegte noch ein paar Sekunden – hatte sie das ehrlich gemeint oder war es nur eine höfliche Phrase gewesen. Aber dann beschloss er, diese Dummheiten zu vergessen. Und das gelang ihm auch beinahe.
10
Wenn die Januarfröste einem auf Hirn und Lungen schlagen, wenn draußen bei minus fünfundzwanzig Grad Dunstsäulen aus den Fabrikschornsteinen steigen, wenn die Passanten auf der Straße aussehen wie wandelnde Pelztüten und die Fenster der Häuser sich mit Raureif bedecken, dann gibt es in Moskau keinen besseren Ort als das »Cayo
Coco«.
So oder ähnlich dachte auch Philipp Saljutow, als es langsam Abend wurde und er nicht wusste, wohin.
Das »Cayo Coco« ist eine Bar und ein Klub. Benannt ist sie nach dem bekannten kubanischen Strand, es hängen sogar Porträts von Che Guevara und Hemingway darin. Der Letztere wird allerdings von den Besuchern des »Cayo Coco« fast nie erkannt, weil er auf dem Bild noch jung ist, ohne seinen berühmten Bart und die Pfeife.
Im »Cayo Coco« finden freitags und am Wochenende lateinamerikanische Partys statt. Ein dunkelhäutiger Tänzer aus Barbados bringt allen, die es lernen wollen, Mambo bei. Und wenn es auf Mitternacht zugeht, heizen farbige Tänzerinnen den Saal so auf, dass die Gäste den Wendekreis des Krebses und die Brandung des Ozeans statt der Bartheke zu sehen glauben und das Kreuz des Südens anstelle der Glühbirnen an der Decke.
Dienstags jedoch ist es im »Cayo Coco« ruhig. Dann kocht der Barkeeper für die letzten Gäste um drei Uhr früh Schokolade und Kaffee mit Rum und Apfelsinenschalen.
Um drei Uhr früh, wenn draußen klirrender Frost herrscht und die Stadt in tiefem Schlaf liegt, duftet es im »Cayo Coco« nach herber Schokolade, der Saal ist leer, mitten auf der halbdunklen Bühne liegt eine Gitarre, die der erschöpfte Musiker dort vergessen hat.
Der Gitarrist ist betrunken, die Schokolade bitter. Ihren Geschmack spürt man noch lange, sehr lange auf den Lippen: Cayo Coco . . . Eine samtene, zauberhafte Nacht am warmen Ozean, korallenroter Sand.
»Hör mal . . . Hör mir doch mal zu! Lass uns wegfahren, ja? Geld ist vorläufig noch da. Ich hab das Gefühl, dieser Winter hat dich völlig geschafft, Lipa.«
Das hatte der Legionär gesagt. Er saß Philipp gegenüber und trank ebenfalls heiße Schokolade. »Lipa« (»Lipa« bedeutet im Russischen außer »Linde« auch »Nachahmung, Fälschung«) , Philipps Spitzname, klang nur aus seinem Mund nicht wie ein verächtliches Schimpfwort, so wie er sich bei Gleb Kitajew oder bisweilen auch bei seinem Vater anhörte. »Lass uns wegfahren, Lipa« – wie einen Refrain wiederholte er das seit Neujahr oder sogar schon länger. Nach Bolivien, nach Chile, nach Peru, nach Mexiko, wohin auch immer! Hauptsache, möglichst weit weg. Weit weg . . . Denn Geld hatten sie vorläufig noch genug. Das Geld, das der Vater Philipp vor ein paar Monaten gegeben hatte.
Ein großer Teil davon war allerdings für einen teuren Wagen draufgegangen, einen Jeep Chevrolet. Die Wagenpapiere waren bereits da, und der Wagen selbst war für die Teilnahme an der Internationalen Amateurrallye Irakesch – Dschelfa – Tripolis im Frühling dieses Jahres angemeldet. Bestimmt wird den Pokal gewinnen, denn am Steuer sitzt der Legionär, und Navigator ist er, Philipp Saljutow. Vorausgesetzt natürlich, alles läuft nach Plan.
»Weißt du, hier ist es doch auch prima.« Philipp lächelte, das Lächeln fiel etwas müde aus. Aber schließlich war es auch schon drei Uhr früh.
Der Legionär zuckte die Schultern. Seit einiger Zeit sprachen sie nur noch wenig miteinander.
Um drei Uhr morgens und bei klirrender Kälte kommt so gut wie nie vor, dass noch ein Gast im »Cayo Coco« auftaucht und direkt von der kalten, vereisten Straße hereinschneit. Außer es handelt sich bei diesem Gast um Aligarch, laut Pass Georgi Gasarow.
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