Das Lächeln der Frauen
sie mir
wahrscheinlich am liebsten das komplette Manuskript am Telefon vorgelesen. Oder
sie befand sich mitten in einer Schreibkrise, und dann mußte ich all meine
Kräfte aufbieten, um sie davon zu überzeugen, daß sie eine großartige
Schriftstellerin war.
Dieses
Mal war es also die Schreibkrise.
»Ich
bin völlig leer, mir fällt überhaupt nichts mehr ein«, klagte sie in den Hörer.
»Ach,
Hélène, das sagen Sie jedesmal, und am Ende kommt immer ein toller Roman dabei
heraus.«
»Diesmal
nicht«, erklärte sie mit düsterer Stimme. »Die ganze Geschichte stimmt vorne
und hinten nicht. Wissen Sie was, André? Gestern habe ich den ganzen Tag vor
dieser blöden Maschine gesessen, und am Abend habe ich alles wieder gelöscht,
was ich geschrieben hatte, weil es einfach grauenvoll war. Platt und
ideenlos und voller Klischees. Kein Mensch will so etwas lesen!«
»Aber,
Hélène, das stimmt doch alles gar nicht. Sie schreiben so wunderbar - lesen Sie
mal die enthusiastischen Rezensionen ihrer Leser auf Amazon. Außerdem ist es
ganz normal, daß man ab und zu einen Durchhänger hat. Vielleicht nehmen Sie
sich mal einen Tag, an dem Sie gar nichts schreiben. Dann fließen die Ideen
schon wieder, Sie werden sehen.«
»Nein.
Ich habe ein ganz komisches Gefühl. Das wird nichts mehr. Am besten wir
vergessen diesen Roman ... und ich ... «
»Was
reden Sie da für einen Unsinn!« unterbrach ich sie. »Sie wollen die Flinte ins
Korn werfen, auf den letzten Metern? Das Buch ist doch schon so .gut wie
fertig.«
»Mag
sein, aber es ist nicht gut«, erwiderte sie trotzig. »Ich müßte das Ding
komplett umschreiben. Im Grunde kann ich alles löschen.«
Ich
seufzte. Es war immer dasselbe mit Hélene Bonyin. Während die meisten Autoren,
mit denen ich arbeitete, die ersten Seiten in Angst umkreisten und unglaublich
lange brauchten, bis sie sich dazu durchringen konnten anzufangen, bekam diese
Frau ihre Panikattacken seltsamerweise immer dann, wenn Dreiviertel des
Manuskripts schon geschrieben waren. Dann gefiel ihr plötzlich gar nichts mehr,
alles war ein großer Mist, das Schlechteste, was sie je geschrieben hatte.
»Hélène,
jetzt hören Sie mir mal zu. Sie löschen gar nichts! Schicken Sie mir das, was
Sie schon geschrieben haben, und ich schau es mir sofort an. Und dann reden wir
darüber, ja? Ich wette, es wird phantastisch sein, so wie immer.«
Ich
redete noch zehn Minuten auf Hélène Bonvin ein, bevor ich den Hörer erschöpft
auflegte. Dann stand ich auf und ging ins Sekretariat, wo Madame Petit gerade
ein Schwätzchen mit Mademoiselle Mirabeau hielt.
»Hat
Adam Goldberg inzwischen angerufen?« fragte ich und Madame Petit, die ihre
barocken Formen an diesem Morgen in ein großgeblümtes buntes Kleid gesteckt
hatte, lächelte mich über ihre Kaffeetasse hinweg an.
»Nein,
Monsieur Chabanais«, entgegnete sie freundlich. »Das hätte ich Ihnen doch
sofort gesagt. Nur dieser eine Übersetzer, Monsieur Favre, der hatte noch ein
paar Fragen, aber er meldet sich dann später noch mal. Und ... ach ja, Ihre
Mutter hat angerufen und bittet dringend um Rückruf.«
»Um
Himmels willen!« Ich hob abwehrend die Hände. Wenn meine Mutter dringend um
Rückruf bat, kostete mich das mindestens eine Stunde. Dringend war es aber nie.
Im
Gegensatz zu mir hatte die Gute viel Zeit, und sie liebte es, mich im Verlag
anzurufen, denn dort ging immer jemand ans Telefon. Wenn ich nicht greifbar
war, plauderte sie eben mit Madame Petit, die sie »ganz reizend« fand.
Irgendwann einmal hatte ich Maman meine Nummer im Verlag gegeben - für
den Notfall. Leider waren ihre Vorstellungen von einem Notfall sehr verschieden
von meinen, und sie rief mit treffsicherem Gespür immer dann an, wenn ich
gerade auf dem Sprung war, um zu einem Termin zu eilen, oder unter Hochdruck
ein Manuskript lektorierte, das möglichst noch bis' zum Nachmittag in Satz
gehen sollte.
»Stell
dir vor, der alte Orban ist beim Kirschenpflücken von der Leiter gefallen und
nun liegt er im Krankenhaus ... Oberschenkelhalsbruch! Was sagst du dazu? Ich
meine ... muß der in seinem Alter noch auf Bäumen rumklettern?«
»Maman, bitte! Ich habe jetzt überhaupt keine Zeit!«
»Mon
Dieu, André, was bist du denn immer so hektisch«, sagte sie dann, und der
Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Ich dachte, es interessiert
dich; immerhin warst du als Kind so oft bei den Orbans ...«
Diese
Gespräche endeten in der Regel unerfreulich. Entweder ich saß gerade
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