Das Lächeln des Leguans
leben, wobei er sich nach Lust und Laune dieses
mütterlichen Harems bedient. Sein Mütterheft enthält auch Zeichnungen, Porträts, die immer wieder dasselbe schöne, traurige
Antlitzeiner jungen Frau zeigen, deren Haar vom Wind zerzaust ist. Wenn wir Pater Loiselle besuchen, holt Luc seine neuesten Skizzen
hervor und fragt ihn nach seiner Meinung, denn zum Zeitpunkt seiner Taufe hat der Priester die inzwischen vom Erdboden verschwundene
Chantal flüchtig gekannt, und er ist bereit, Lucs Zeichenstift anhand der ihm noch verbleibenden Erinnerungen zu lenken. Waren
ihre Augen so? Die Krümmung der Lider eher so? Und wie waren die Lippen? Pater Loiselle antwortet ihm, so gut er kann, worauf
Luc eine Verschnaufpause nutzt, sich, über sein Heft gebeugt, das Porträt erneut vornimmt und es per procura immer weiter
zu verfeinern sucht. Hin und wieder überwältigt ihn ein Gefühl der Ohnmacht, dann zerreißt er die Seite. In seinen kubistischen
Phasen zeichnet er manchmal eine seltsame surrealistische Mutter, halb Frau, halb Fisch, deren Haar in den Fluten wogt. Jedenfalls
ist und bleibt es eine traurige Angelegenheit; Luc weiß nur zu gut, dass Mütter auf dem Papier selbst zu Hunderten nie und
nimmer eine reale Mutter aufwiegen können, auch wenn sie sich zurzeit auf Tauchstation befindet wie meine.
7
Trotz einer eher mageren Ausbeute war es für Luc ein großer Tag, denn er hat seine ersten Muffins probiert. Ich wusste, dass
Großmutter, bevor sie zu ihrer Versammlung im Sandgolfklub aufbrach, welche gebacken hatte, und hatte den Anschlag sorgfältig
geplant. Und da auch Großvater beschäftigt war, schlichen wir wie arabische Flaschengeister ins Haus und folgten dem herrlichen
Duft in die Küche, wo uns die Köstlichkeiten erwarteten. Sie kühlten, üppig und verlockend, auf dem Büfett ab und waren dermaßen
unwiderstehlich, dass wir sie allesamt verschlangen, bevor wir uns durch die hintere Tür fortstahlen. Aber so einfach sollte
ich nicht davonkommen!Beim Abendessen gab es eine gehörige Standpauke. Großmutter war zutiefst gekränkt gewesen, ihre Küche mit Krümeln übersät
vorzufinden. Außerdem hatte sie mich, als sei das kulinarische Vergehen nicht schon schlimm genug, in Lucs Begleitung davonlaufen
gesehen. Ihre Bestürzung war groß. In der Nachbarschaft gebe es doch lauter Kinder aus guten, angesehenen Familien, sie begreife
nicht, warum ich mich mit dem »jungen Bezeau« eingelassen habe, diesem schmutzigen, zerlumpten Kerl, dieser lebendigen Herausforderung
für die Regeln der Hygiene und des Anstands. Wir haben heftig gestritten. Zum Glück war Großvater auf meiner Seite, und nach
so manchen Haarspaltereien räumte Großmutter schließlich ein, vielleicht sei Luc ja doch nicht der Aussätzige, als den sie
ihn geschildert habe. Sie gab zu, es sei nicht seine Schuld, er habe sich seinen Vater schließlich nicht aussuchen können,
und seine Tätigkeit als Chorknabe spreche letztlich nur für seine moralische Gesinnung. Sie untersagte mir nicht, ihn wiederzusehen,
doch ich musste eine ganze Reihe von Versprechen abgeben, wie etwa nie zu ihm nach Hause zu gehen und wegen der möglichen
Ansteckungsgefahr verstärkte prophylaktische Maßnahmen zu ergreifen.
Arme Großmutter. Ich habe Verständnis dafür, dass Luc sie vor ein Rätsel stellt. Dabei beurteilt sie ihn nur nach seinem Äußeren,
ohne etwas von seinen wirklich originellen Seiten auch nur zu ahnen. Wie entsetzt wäre sie erst, wenn sie uns wie Schlote
rauchen sehen würdeund beim Messerwerfen auf die Puppe aus alten Bojen, die Luc Canuel getauft hat. Wenn sie von unseren gefährlichen, waghalsigen
Spielen und all den törichten akrobatischen Übungen wüsste, denen wir in den zerklüfteten Felsen von Pointe-Rouge frönen.
In Großmutters Augen ist Luc ein Kaktus, eine zensierte Fassung des kleinen hässlichen Entleins, ohne den Schwan am Ende der
Geschichte. Sie sieht nur die Schale, und kann man es ihr verübeln? Um Lucs Vorzüge zu kennen, muss man ihn ziemlich lange
begleitet und erlebt haben, wie er sich einfach treiben lässt. Um seine besondere Schönheit zu begreifen, muss man ihm dabei
zusehen, wie er sich ins Wasser stürzt und mit dem wohligen Überschwang eines Seehundes schwimmt. Seine zu mageren Gliedmaßen
und seine spatelförmigen Füße, die ihm an Land einen pinguinartigen Gang verleihen, dienen ihm dann als natürliche Schwimmflossen
und erlauben ihm, sich mit
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