Das Lächeln des Leguans
draußen übernachtet?
Er verträumt seine Kindheit zu Füßen einer seinem Zuhause vorgelagerten Düne. Nur der Regen schafft es, ihn von dort zu vertreiben,
und selbst dann sucht er lieber unter dem umgedrehten Boot Zuflucht als im Haus. Er sagt, man schlafe besser am Strand, die
Träume seien dort lebendiger, und auch wenn man wach sei, gebe es dort immer etwas zu sehen. Er spricht von wilden Tieren,
von Stachelschweinen, Elchen, ja sogar Wölfen, die auf der Suche nach Salz aus dem Wald kommen und zum Ufer trotten, um einen
Schluck Atlantik zu schlürfen. Erschildert jene Lichter unter Wasser, die sich manchmal auf dem offenen Meer gegen die Strömung bewegen, und versucht, den
verrückten Golfspieler zu beschreiben, der bei absoluter Finsternis mit leuchtenden Bällen am Ufer trainiert. Er erzählt von
den Kometen und Mondphasen, dem Nordlicht, den Novae, den Meteoren, und in seinen Worten klingt alles wie ein einziges Feuerwerk.
Luc weiß eine Menge über Sterne. Er hat die Nacht, diese Höhle mit ihren edelsteinbesetzten Wänden, genau studiert. Er ist
ein großer Erfinder von Sternbildern. Statt der herkömmlichen hat er ganz eigene ersonnen, die vom Meer inspiriert sind: die
Anemone, den Delfin, das Seepferdchen, den Rochen, den Barrakuda …
Tag wie Nacht entspricht seine Stimmung der des Meeres. Bei Hoch- oder Niedrigwasser ist er gelassen, bei leichtem Seegang
wird er lebhaft, bei Sturm reizbar, und bei den ersten Frösten im Januar zieht er sich vermutlich ganz in sich zurück. Übrigens
hasst er den Winter und findet es ungerecht, alljährlich dessen Tyrannei über sich ergehen lassen zu müssen. Er meint, seine
Geburt in so nördlichen Gefilden sei ein Irrtum, den er, so schwört er, eines Tages korrigieren werde. Er hegt äquatoriale
Ambitionen. Am liebsten würde er auf den Galapagosinseln leben und sich unter einem wolkenlosen Himmel sonnen. Er träumt von
Mangroven, kristallklaren, warmen Gewässern und Fischen in den verschiedensten Farben. Dort, in der brütenden Hitze der Tropen,
würden seine Knochen eines Tages bleichen; das hat er sich geschworen.
8
Luc hat gefragt, ob er mich ins Krankenhaus begleiten dürfe. Er möchte meine Mutter sehen. Das hat mich kaum gewundert; mir
war schon seit einer ganzen Weile aufgefallen, dass er das Thema ständig umkreiste, wie ein Hai auf Beutezug. Armer Luc, er
erfindet lauter fantastische Mutterbilder, ohne tatsächlich eine Ahnung davon zu haben. Von einer Mutter hat er nur eine vage
Vorstellung. Das Thema lässt ihn einfach nicht los, deshalb interessiert er sich so für meine. Die Mutter eines Freundes ist
schließlich immer noch besser als irgendein Phantom, und er stellt mir unentwegt Fragen, weil er über die im Fernsehen und
anderswo so gepriesenen,viel zitierten mütterlichen Tugenden einfach alles wissen will.
Was das Krankenhaus betrifft, so habe ich eingewilligt. In meinen Augen sprach nichts dagegen, vorausgesetzt natürlich, dass
Großmutter nichts davon erfährt, die dafür kein Verständnis haben und an die Decke gehen würde. Wir werden morgen früh ohne
ihr Wissen in den Bus steigen. Luc war ganz aus dem Häuschen. Wenn ich ihm ein Flugticket zu den Galapagosinseln geschenkt
hätte, wäre seine Freude nicht größer gewesen.
*
Wir sind um acht Uhr im Krankenhaus angekommen. Luc hat zwar beim Personal auf der Station mit seiner arroganten Tintenfischmiene
einiges Befremden ausgelöst, aber man hat uns dann trotzdem in Mamas Zimmer gelassen. Als er vor der Tür stand, hatte Luc
plötzlich Bammel. Er wollte nicht mehr reingehen. Als würde die Schwelle zu diesem Raum eine magische Grenze markieren, die
er nicht zu überqueren wagte. Da ich nichts daran ändern konnte, ließ ich ihn im Gang stehen und betrat das Zimmer allein,
um mich wie üblich um meine liebe kristallene Mama zu kümmern. Luc kämpfte draußen mit sich. Im Türrahmen tauchte sein Karpfenblick
auf. Er wirkte wie hypnotisiert von der daliegenden nordischen Schönheit. Meine Schneewittchenmutter war tatsächlich sehr
schön. Der Morgen tauchte sie in ein indirektes goldenes Licht und verwandelte den Raum in ein Science-Fiction-Mausoleum.Selbst als Geisel des vierundfünfzigsten Kilometers, selbst als Halbtote war sie immer noch schön, und das erfüllte mich mit
Stolz, als wäre es mein Verdienst.
Schließlich näherte sich Luc ganz eingeschüchtert auf Zehenspitzen. Er beobachtete mich, wie ich Mamas
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