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Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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oben auf einer Düne beobachte ich ihn, wie er seine Heringe mit der Präzision eines Profis zerteilt, und mir wird klar,
     wie knapp Canuel noch einmaldavongekommen ist. Luc ist ein wahrer Meister des Messers. Mit einer einzigen geschmeidigen Geste schlitzt er den Bauch auf,
     greift mit einer fließenden Bewegung nach den Innereien und wirft sie elegant den aufgeregten Möwenschwadronen zu. Doch zunächst
     widmet er sich dem Kopf des Fisches   … All die Köpfe, die er abtrennt und die wie von einer unermüdlichen Guillotine in den Mülleimer fallen. Ich kann nicht umhin,
     sie zu addieren, zu multiplizieren. Dieses instinktive Nachrechnen kommt mir gelegen; so denke ich weniger an jenen anderen
     Kopf, der im Sarg fehlt. Diese Gleichgültigkeit, mit der Luc arbeitet, dieser erbarmungslose Rhythmus, diese schreckliche
     Teilnahmslosigkeit eines Lokomotivenrads. Wenn man ihm dabei zusieht, begreift man, wie das Schicksal agiert, und weiß, dass
     alles am Ende nur eine Frage des Maßstabs ist. Warum sollte das Schicksal meines Vaters dem da oben nahegehen, wenn selbst
     ein komischer Kauz vom Dorf wie Luc in nur einer Stunde ein ganzes Heer von niederen Lebewesen enthaupten kann?
    Gebannt sehe ich ihm zu, wie er, einem König gleich, immer wieder ins Innere seiner Untertanen sticht. Und mich drängt es,
     zu ihm zu gehen und diesen Jivaro-Indianer, der, ohne mit der Wimper zu zucken, eine solche Menge an Köpfen abzutrennen vermag,
     um Rat zu fragen. Ich halte mich jedoch zurück, denn ich weiß, dass es ihm unangenehm wäre. Auch dies ist der Krabbenschwur:
     eine stillschweigende Übereinkunft, ein Abkommen unter Männern, jegliches heikle oder peinlicheThema zu vermeiden. Im Gegensatz zu Lucs Heringen werden wir unser Innerstes für uns behalten. Wir werden entschlossen, ungerührt
     und geheimnisvoll dreinblicken. Er mischt sich nicht in meine persönlichen Belange ein, und genauso will ich es mit ihm halten.
     Ich werde ihn, auch wenn ich es zu gern wüsste, nicht über seine zweideutige Beziehung zu Mona Daigneault ausfragen, jener
     Witwe mit dem atemberaubenden Bikini, für die er samstags den Rasen mäht oder den Zaun streicht. Genauso verbietet mir der
     Krabbenschwur, mich nach den rätselhaften stundenlangen Exkursionen zu erkundigen, die er ganz allein in Les Gigots unternimmt.
     Auf die Gefahr hin, mir die Birne anzuschlagen, bin ich ihm einmal durch dieses Labyrinth aus Felsen und angriffslustigen
     Büschen gefolgt, aber über den Berg führen Wege, die nur er kennt, und schon bald habe ich erbärmlicher Pfadfinder mich in
     Les Gigots verlaufen. Ich musste ohne die geringste Vorstellung von dem, was er wohl dort oben treibt, umkehren, und weil
     es ein Tabu ist, verlieren wir nie ein Wort darüber. Luc ist wie eine dieser russischen Puppen, ein Geheimnis passt in das
     andere. Er ist eine Kaugummikugel mit gewiss süßem Kern, doch hartem Äußeren, auf der man ewig herumlutscht. Man muss ihn
     eben so nehmen, wie er ist, mit seiner Verschwiegenheit, seiner Heimlichtuerei und seinen geheimen Verstecken.
     
    *
     
    Luc durchbricht mit Vorliebe den doch eigentlich vorhersehbaren Rhythmus der Jagd. Er legt zwischendurch immer wieder Pausen
     ein. Heute Morgen sind wir bis zur
Tila Maru
, einem gestrandeten Erzfrachter, der die Untiefen von Pointe-Rouge schmückt, geschwommen und haben die scharfkantigen Innereien
     dieses ausgeweideten rostigen Schlosses erkundet. Gestern haben wir die schläfrige Wachsamkeit eines schaurigen Wärters überlistet
     und sind in die Ferienanlage
Domaine du Silence
eingedrungen, um mit unserem Papageiengeschrei die kostspielige Ruhe derer, die von weit her kommen, um endlich einmal abzuschalten,
     zu stören. Tagtäglich gibt es ein neues Abenteuer, einen neuen schrägen Plan: Wir werfen über den Kaulquappenpopulationen
     im Sumpf von Jules ganze Kommandos von Wasserkäfern ab und lösen in den Schlammlöchern denkwürdige Schlachten aus, wir suchen
     die vertebralen Flächen des Cap aux Os nach Fußabdrücken von Dinosauriern ab, um dann dem Mondgesang jener geheimnisumwitterten
     Spalte am Knöchel von Les Gigots zu lauschen, in die angeblich einst ein Mädchen gestürzt sein soll. Dank der ungewöhnlichen
     Bilder, die Luc aus dem Raster eines scheinbar eintönigen Alltags herausschneidet, entsteht in mir eine neue, fantastische,
     multidimensionale Sicht der Strände. Ich folge ihm auf Schritt und Tritt und spiele den deutschen Touristen. Ich lasse mich
    

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