Das Lächeln des Leguans
führen. Ich erkenne, dass er mir auf diese Weise Einblick in seine Seele zu gewähren versucht. Als starre Riesenmuschel, die
er nun einmal ist, stellt Lucsich weniger über das Wort dar als dadurch, dass er mir sein persönliches Universum zeigt. Das ist seine Art und Weise, zu
kommunizieren, unsere Bande zu festigen und unsere Allianz zu besiegeln.
Während wir gemeinsam die Strände erkunden, lernen wir nicht nur deren grenzenlose Vielfalt kennen, sondern bekommen auch
manch unbekanntes Exemplar der dortigen Fauna zu Gesicht. Wie etwa die rätselhafte Madame Fequet, deren Vorhänge aus Ratiné
sich erst abends öffnen, wenn sie einem vermeintlichen Krabbenfischer, der ihr per Ruderboot irgendwelche Kisten liefert,
verschlüsselte Signale sendet. Oder Monsieur Groulx, der sich allabendlich am Ende der alten Mole niederlässt, um eine Orange
zu essen und auf eine Verlobte zu warten, die sich vor einer Ewigkeit mit ihm dort verabredet hat, aber nie aufgetaucht ist.
Da ist Arthur, der Türensammler, der unentwegt die Wände seiner großen Baracke durchbricht, um neue Türen einzusetzen, wodurch
seine Bleibe eine immer bedrohlichere Ähnlichkeit mit einem Schweizer Käse bekommt. Und Pater Loiselle nicht zu vergessen,
der sich den lieben langen Tag in der Küche des Pfarrhauses den Bauch vollschlägt. Abgesehen von seinem spektakulären Heißhunger
ist er noch in anderer Hinsicht speziell: Er ist Lucs Freund. Wir schauen häufig bei ihm vorbei, eine Aufmerksamkeit, für
die wir mit Strandschnecken und Krapfen üppig belohnt werden. Der Priester hat ein echtes Problem mit seiner Leibesfülle,
behauptet jedoch, schuld daran sei nicht er,sondern die ärgerliche Rivalität zwischen den Köchinnen seines Reiches, eine Gabelverschwörung, ein Komplott, das allein darauf
abziele, ihn mittels Völlerei der Verdammnis preiszugeben. Begraben unter Fleisch- und Kaninchenpasteten, bombardiert mit
Lachs in Sauce und Tümmlerragout, niedergestreckt von Blaubeerkuchen, Zimtschnecken und frittierter Schweineschwarte, hat
der arme Priester schon seit Langem kapituliert, in dem Glauben, den teuflischen Verdauungstorturen der Hölle nicht mehr entrinnen
zu können. Was Luc allerdings nicht daran hindert, große Stücke auf ihn zu halten. Loiselle ist in seinen Augen ein sehr weiser
Mensch, und er hat riesigen Respekt vor ihm. Der gute Mann kümmert sich um Luc. Er erkundigt sich immer wieder nach seiner
Gesundheit und auch danach, wie die Dinge zu Hause stehen, ein Thema, das ihm offenbar sehr am Herzen liegt. Lucs Vater wird
nie ausdrücklich erwähnt, doch ist zu vermuten, dass er der eigentliche Grund für seine Besorgnis ist. Man spürt, dass es
zwischen dem Geistlichen und dem Fischer Spannungen gibt, und Luc hat mir anvertraut, es habe mit seinem Job als Chorknabe
zu tun. Sein Vater verabscheue die Religion im Allgemeinen und Loiselle im Besonderen. Er ist außer sich, weil Luc zum Feind
übergelaufen ist, und verlangt, dass er es sich endlich anders überlege, aber Luc hört nicht auf ihn, weil der Priester ihm
so viel bedeutet. Trotz des väterlichen Verbots wirft er also nach wie vor jeden Sonntag sein zu kurzes Chorhemd über und
schwört, daran festzuhalten,koste es, was es wolle, und sei es nur aus Treue zu dem, der ihn durch das Gitter des Beichtstuhls als Erster seinen Sohn
genannt hat.
*
Mama ist ein mit Raureif bedeckter Garten, ein zugefrorener Teich im hohen Norden jenseits von Norwegen, und nichts deutet
darauf hin, dass es demnächst taut. Ich tröste mich mit dem Gedanken, diese Prüfung nicht ganz allein bestehen zu müssen,
denn auch Lucs Mutter ist in weiter Ferne. Sie ist kurz nach seiner Geburt verschwunden. Einfach so, und sie hat nur einen
Namen hinterlassen: Chantal Bouchard. Ob Luc es ihr wohl übel nimmt, dass sie ihn allein gelassen hat? Offenbar nicht, aber
er scheint sie sehr zu vermissen, denn er versucht, sich anhand von erfundenen Gesichtern an sie zu erinnern. In einem Heft
sammelt er Mütter. Darin sind lauter aus Zeitschriften und Katalogen ausgeschnittene Bilder, Fotocollagen, in denen Schneewittchen
und Vampirella zu Zwitterwesen verschmelzen und die Jungfrau Maria mit Aktmodellen aus alten
Playboy -Heften
kombiniert wird. Es muss verlockend sein, sich eine ideale Mutter zu erschaffen, und Luc schöpft dabei aus dem Vollen. Wahrscheinlich
stellt er sich nur so zum Spaß vor, erst mit der einen, dann mit der anderen zu
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