Das Lächeln des Leguans
mich zu überzeugen, dass es etwas gibt, das größer ist als meine Einsamkeit,
ging ich zum Fenster und versuchte, die Weite des Meeres zu ermessen. Irgendwo dort drüben im Westen würde Luc gerade in seinem
Schlafsack liegen und die Sterne einatmen oder vielleicht ja auch beten. Hoffentlich hatte er mehr Glück …
*
Normalerweise erwartete er mich auf der Treppe, aber heute Morgen stand er nicht dort. Dass Luc sich bei der Jagd verspätete,
war noch nie vorgekommen, deshalb ging ich ihm entgegen. Als ich mich seinem Zuhause näherte, hörte ich eigentümliche Laute,
das tränenreiche Gestammel, das er, wenn er wütend ist, zum Fluchen verwendet. Es drang unter dem umgedrehten Boot hervor,
und dort fand ich ihn niedergestreckt, mit geschwollenem Gesicht. Der Schweinehund hatte ihn wieder einmal übel zugerichtet.
Offenbar hatte der Schuft seine Mutter beleidigt, sie ein Flittchen genannt, ihr unterstellt, es mit sämtlichen Matrosen im
Hafen getrieben zu haben, und war immer weiter über sie hergezogen, bis Luc es nicht länger ausgehalten und sich gewehrt hatte,
was dem Schweinehund einen willkommenen Vorwand lieferte, ihm eine ordentliche Tracht Prügel zu verpassen.
»Alles gelogen«, stieß Luc hervor, indem er seine Finger an den Spanten des Ruderbootes wetzte.
Und schluchzend verteidigte er seine Mutter. Sie sei keine Hure, sondern ganz im Gegenteil eine ehrbare Frau. Sie habe ihn
verlassen, das schon, aber bestimmt aus gutem Grund, weil ihr nichts anderes übrig geblieben sei. Er wisse, dass sie, wo auch
immer sie sei, an ihn denke. Eines Tages werde sie zu ihm zurückkommen und mit ihm gemeinsam aufbrechen, um unter der Sonne
der Tropen zu leben. Aber zunächst war da nur die Brise, die ihm durchs Haar fuhr, die schillernden Nacktschnecken, die über
seine Wangen zogen, und die ihn umzingelnde lodernde Verzweiflung. Ich versuchte vergeblich, ihn zu trösten. Er wollte allein
sein. Er machte sich auf nach Les Gigots, und ich ging schweren Herzens nach Hause. Ich hätte gern gewusst, wie sich sein
Schmerz lindern ließe. Ich fragte mich, wo diese verschwundene Mutter wohl stecken mochte. Konnte man nicht versuchen, sie
ausfindig zu machen?
*
Es war seltsam. Ich musste immer wieder an Lucs Mutter denken, und da es mich drängte, Nachforschungen anzustellen, suchte
ich Großvater in seiner Räucherkammer auf. Während ich ihm bei der Zubereitung seiner Salzlake half, fragte ich ihn nach der
rätselhaften Chantal und merkte gleich, dass ihm meine Fragen lästig waren, denn er gab mir nur ausweichende Antworten. Lucs
Mutterhabe er nicht wirklich gekannt, denn sie habe nur vorübergehend in Ferland gelebt. Eine zurückhaltende junge Frau, die nur
selten ausgegangen sei und die er in den Monaten vor ihrem Tod nur in der Kirche gesehen habe. Sie sei nämlich tot.
In einer Julinacht vor zehn Jahren, als Luc noch ein Baby war, sei sie in der Bucht ertrunken. Großvater meinte, sie habe
die Strömung unterschätzt und sei von ihr mitgerissen worden. Jedenfalls habe man ihren Leichnam nie gefunden. Nur ihre Kleidung,
tags darauf am Strand.
Ich hatte das Gefühl, in die vierzehnte Dimension katapultiert worden zu sein, und die Landung war nicht gerade sanft. Wie
Luc über seine Mutter spricht, immer im Präsens, als wäre sie noch am Leben. Er würde doch bestimmt die Wahrheit kennen. Oder
wollte er sie nur nicht akzeptieren? Bildete er sich womöglich ein, sie habe überlebt oder sei einfach weitergeschwommen?
Jedenfalls kann ich die absolute Faszination, die der Ozean auf ihn ausübt, jetzt besser verstehen. Diese fließenden Arme,
in die er sich so gern begibt … Sucht er in diesen Untiefen, die er um jeden Preis erkunden will, nicht vielleicht eine versunkene Frau, seine Mutter, im
Meer?
9
»Die Stickstoffnarkose äußert sich in Form von halluzinatorischen Phänomenen und unkontrollierten Handlungen (Verlust des
Mundstücks, Orientierungslosigkeit, Abnehmen der Tauchermaske, widersprüchliches bzw. gleichgültiges Verhalten gegenüber den
anderen Tauchern etc.), die zu einem Tauchunfall führen können (Tod durch Ertrinken, Überdruck in der Lunge, Dekompressionsunfall …).«
Die Geschichte von Lucs Mutter lässt mich nicht los, aber ich weiß nicht, wie ich mit ihm darüber sprechen soll. Schuld daran
ist die Krabbe, dieses verschlossene Krustentier, welches das Gelände zu einem einzigen Minenfeld werden lässt und
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