Das Lächeln des Leguans
wächserne Hand behutsam
wärmte. Dann beschloss er, dasselbe zu tun, nahm ihre andere Hand und gab an sie sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Kalorien
weiter. So verharrten wir eine ganze Weile wie zwei seitliche Wärmflaschen und wärmten meine Mutter über ihre Gliedmaßen.
Es war einer jener seltsamen Momente, von denen man meint, sie schon einmal erlebt zu haben. Die Zeit war außer Kraft gesetzt,
und Luc versank in eine andächtige Trance, während ich mich dabei ertappte, in ihm so etwas wie einen unwahrscheinlichen Bruder
zu sehen.
Als es Zeit zum Gehen war, konnte man ihn nicht vom Bett loseisen. Er klammerte sich, ganz benommen von der mütterlichen Nähe,
daran fest. Ich mahnte ihn, Großmutters Besuchszeit nahe, sie könne jeden Augenblick aufkreuzen, doch er hörte nicht auf mich.
Wie verhext verschlang er Mama mit den Augen und hielt ihre Hand fest umschlossen. Ich spürte, dass er gern allein bei ihr
geblieben wäre, und hätte um ein Haar den Raum verlassen, doch dann überlegte ich es mir anders, schließlich war es nicht
an mir zu gehen. Ich wollte ihm kein solches Privileg einräumen; er hätte meine Abwesenheit ausnutzen, wie eine Krabbe an
ihr herumknabbern, sie gierig küssen können, um herauszufinden, ob es wirklich soist wie in den Märchen. Wenn es um meine Mutter geht, bin ich dann doch nicht so großzügig, und um ihm das klarzumachen, markierte
ich mein Privateigentum, ihre geliebte Stirn, mit besitzergreifenden Küssen. Dadurch kam Luc wieder zu sich und war endlich
bereit, mir zu folgen, nicht ohne auf die Schlafende einen letzten verliebten Lurchblick zu werfen.
Ein Gefühl des Unbehagens begleitete uns bis zum Bus und ließ sich zwischen uns auf der Bank nieder. Auf dem Rückweg schwiegen
wir. Ich fühlte mich schuldig und ziemlich egoistisch. Ich machte mir Vorwürfe, dieses für Luc gleichsam kardiologische Schlüsselerlebnis,
endlich eine echte Mutter zu erleben, so nüchtern abgebrochen zu haben. Er sah durch das Busfenster die Inseln vorüberziehen.
Er sagte kein Wort, und ich versuchte, mich für den Rottannenfilm zu interessieren, der im Zeitraffer auf meiner Seite ablief.
Als sich seine Hand auf meine Schulter legte, schreckte ich hoch. Er sah mich mit noch ernsterer Miene an als sonst und sprach
plötzlich, als hätte er in mir gelesen, meinen geheimen Gedanken aus:
»Wir müssen sie aufwecken.«
Sein Blick war ganz klar, ohne jeden Hintergedanken. Er bot mir seine Hilfe an. Da wurde mein Herz von einer riesigen Woge
ergriffen. Sie aufwecken, ja, bevor es zu spät war. Sie aufwecken, bevor die Chlorsäure die Rohre zu stark befallen und das
Leitungssystem zerstört hatte. Sie aufwecken, bevor die Lava der Hoffnung erstarrte, solange sie noch warm war, denn ohne
sie würde sich dieErde schließlich nicht mehr drehen, ohne sie wäre es kein Leben mehr. Sie aufwecken, ja, nur zu gern! Aber wie?
Lucs Augen waren Jo-Jos. Er überlegte, nunmehr in der Offensive, seine Neuronen waren unter Aufbietung der vollzähligen zerebralen
Artillerie zum Angriff übergegangen. Einen Augenblick lang dachte ich, im überhitzten Treibhaus seines Schädels keime ein
genialer Samen, der eine neue Idee, eine originelle Lösung hervorbringen würde, doch als wir vom Highway 138 in die Straße
zu unserem Dorf einbogen, sagte er nur, er werde dafür beten, dass Mama wieder gesund werde. Na toll! Das würde auch echt
viel bringen. Und er schien sich wie ein Schneekönig zu freuen, ganz allein darauf gekommen zu sein.
Später am Abend kam mir der Gedanke, die Idee sei vielleicht gar nicht so dumm. Ich fragte mich, ob ich den da oben nicht
vielleicht zu Unrecht so einfach abgetan hatte. Was wusste man schon von den Zwängen, denen die Götter unterliegen? Ich beschloss,
dem Großen Leitstern eine letzte Chance zu geben, kniete neben meinem Bett nieder, bat den Allmächtigen ergebenst um Verzeihung
und flehte ihn an, doch bitte etwas für Mama zu tun. Ich setzte alles auf den Glauben, weil ich unbedingt wollte, dass es
funktionierte, aber nach zehn Minuten begriff ich, dass ich ins Leere telefonierte. Niemand antwortete. Es läutete noch nicht
einmal. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Jedenfalls wusste ich nun, woran ich war: Es gab weder einen Puppenspieler noch
irgendwelcheunsichtbaren Fäden. Der da oben war nur ein weiterer Weihnachtsmann, an den man eines Tages nicht mehr glaubte.
Es ist hart, zu wissen, dass man allein ist. Um
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