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Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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die Last der wachsenden Sorgen leichter tragen,
     denn mit jedem Besuch bei meiner Mutter wird deutlicher, dass sich ihr Zustand verschlechtert. Sie siecht dahin. Sie schmilzt
     wie eine Schneefrau in der Sommerhitze. Wenn es so weitergeht, werde ich demnächst nur noch ein Skelett streicheln, und die
     Ärzte können nichts dagegen tun. Die Quacksalber müssen die Waffen strecken. Sie sind weit abgeschlagen. Im Grunde sind sie
     würdige Vertreter von dem da oben.
    Ich schleppe den Ballast meiner Hilflosigkeit überall mit mir herum. Was tun? Was können wir armen, unwissenden Jungen schon
     ausrichten? Wie sollen wir die großen Götter in Weiß, die sich mit meiner Mutter befassen, auf ihrem eigenen Terrain besiegen?
     Ich würde meine Seele verkaufen, wenn sie nur ihre Augen wieder öffnete, doch dazu müsste erst ein Käufer auftauchen, der
     es gut mit einem meint.
     
    *
     
    Wie aus dem Nichts ist ein Spezialist auf der Bildfläche erschienen, um die Ärzte zu unterstützen, hat meine Mutter untersucht
     und nur bestätigt, was wir bereits wussten: Sie schwindet dahin. Er empfiehlt, sie in eine renommierte Fachklinik in der Hauptstadt
     zu verlegen, in der solche Fälle behandelt werden. Aber Québec ist weit, und ich bin dagegen. Ich möchte nicht, dass Mama
     ans andere Ende der Welt geschafft wird, wo man sie nicht besuchen kann;wenn ich sie mir in den gierigen Fängen einer Schar verrückter Forscher vorstelle, wird mir ganz anders. Großmutter hat mir
     allerdings zu verstehen gegeben, wir seien mit unserem Latein am Ende und hätten wahrscheinlich keine andere Wahl. Diese Aussicht
     schwebt über mir wie ein Pterodactylus. Luc versucht, mich zu beruhigen, aber ich spüre, dass er nicht minder besorgt ist,
     und so trösten wir uns gegenseitig, ohne dass bei dem Spiel einer von uns wirklich gewinnen will.
     
    *
     
    Luc hat mit verschwörerischer Miene verkündet, er müsse wichtige Dinge mit mir bereden, und mich in Richtung Westen, bis zu
     den ersten Steilhängen von Les Gigots, gelotst. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass uns niemand beobachtete, ließ er
     mich wissen, er habe reiflich über die Situation nachgedacht: Da die Ärzte offenbar außerstande seien, meine Mutter aufzuwecken,
     und die Kunstgriffe der Wissenschaft ebenso versagten wie die der Gebete, schlage er vor, auf eine eher unkonventionelle Methode
     zurückzugreifen. Dieser Prolog ließ mich hellhörig werden. Womit würde er wohl dieses Mal aufwarten: mit einer weiteren Geschichte
     über Gehupe auf Tonbändern, Mikrowellenherde oder irgendein neues Patent? Er beteuerte jedoch, dieses Mal sei es ernst, etwas
     völlig anderes. Etwas, das natürlich misslingen könne, jedoch einen Versuch wert sei; stünden wir nicht mit dem Rücken zur
     Wand? Offenbar war er sich seinerSache sicher. Zunächst nahm er mir den Schwur ab, von dem, was ich gleich zu sehen bekäme, niemandem etwas zu verraten, dann
     forderte er mich auf, ihm in die felsigen Hügel zu folgen. Ich heftete mich an seine Fersen, so würde ich wenigstens endlich
     erfahren, was er so häufig dort oben trieb.
    Durch Les Gigots führte kein einziger Pfad. Man hatte nie einen angelegt, weil das Gelände zu unwirtlich war. Ein Haufen riesiger
     Legosteine. Eine einzige Theorie aus Fleisch fressenden Verwerfungen und moosigen Graten. Das Königreich der Stechmücken.
     Der ideale Ort für ein Festival der Verstauchungen. Doch Luc hatte dieses Knochenreich aus Basalt durchstreift. Er kannte
     seine Windungen und Sackgassen, wusste um die Fallen und bahnte sich beherzt seinen Weg. Ungeachtet der Bisse der Dornbüsche
     hangelte er sich immer wieder an Felsen empor und ließ sich von ihnen hinabgleiten oder wich einem unter Gestrüpp lauernden
     Spalt aus, um dann, übermütig wie eine Ziege, über einen anderen zu springen. Immer wieder musste er auf mich warten, wenn
     ich wie ein jämmerliches Insekt, das sich auf einem Schrottplatz verlaufen hat, herumirrte. Bald wähnte ich mich im Schiff
     einer verfallenen Kathedrale, bald in einer von todesmutigen Posten bewachten bombardierten Kaserne, bald im Brustkorb eines
     Brontosaurus, den die aasfressenden Jahrhunderte nur unzulänglich gesäubert hatten. Les Gigots waren, so weit das Auge reichte,
     ineinander verschachtelt, und mir kam es allmählich so vor, als würdenihre gefährlichen Engpässe nie ein Ende nehmen. Und doch wurde ich, nachdem ich diese neuen Karpaten mit meinem Schweiß getauft,
     den Durst all ihrer

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