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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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Ziel durch die Straßen spazieren.
     
    Wenn wir mit ihr über das Wochenende zu einem Familienfest oder für ein paar Ferientage nach Pierremont fuhren, schien Lucile sich auf Feindesland zu bewegen. In Pierremont zog sich Lucile in sich zurück, hier war sie immer am meisten in der Defensive, immer am aggressivsten. Im Kreise ihrer Familie wurde sie wieder zu einem misstrauischen, dünnhäutigen Wesen.
     
    Lucile traf sich mit ihren Geschwistern lieber zu zweit, bei sich oder bei ihnen zu Hause, sie hatte zu jedem von ihnen eine besondere Beziehung, die auf Liebe, Dankbarkeit und Groll beruhte. Es war nicht leicht mit Lucile, sie zwang den anderen ihren Rhythmus und ihre vielen Empfindlichkeiten auf.
     
    Einige Wochen lang sorgte sich Lucile um Lisbeth, die laut Quellen aus ihrem Freundeskreis ihren Freitod vorbereitete. Luciles ältere Schwester lebte schon seit einigen Jahren im Süden, ihre Kinder und dann die ihres zweiten Mannes hatten das Haus verlassen. Kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag hatte Lisbeth erklärt, sie wolle nicht mehr weitermachen. Sie habe keine Lust, alt zu werden. In den Wochen vor ihrem Geburtstag hatte sie ihren Arbeitsplatz aufgegeben und eine Reihe von Formalitäten geregelt. In der Familie war bekannt, dass Lisbeth deprimiert war, ihre Absichten waren schließlich durchgesickert, es wurde wild hin- und hertelefoniert. Am Tag vor Lisbeths Geburtstag tauchten zwei Freundinnen bei ihr auf und nisteten sich bei ihr ein. An ihrem fünfzigsten Geburtstag entlockte ihr die von ihren Kindern vorbereitete Überraschungsparty eine wahre Tränenflut. Ihre Freundinnen blieben noch einige Tage bei ihr, und Lisbeth gab ihr Vorhaben auf.
    Im Sommer darauf fuhr Lucile für einige Tage zu ihrer Schwester, und so hielt sie es danach in fast jedem Sommer.
    (Bei den Gesprächen zur Vorbereitung dieses Buches sollte Lisbeth, die nie um eine provokante Bemerkung verlegen ist, Luciles Suizid mit ihrem immer perfekt eingesetzten ultratrockenen Humor so kommentieren: »Sie hat mich ausgestochen, sie hat mich schon immer ausgestochen.«)
     
    In ihrer kleinen Wohnung beschäftigte Lucile sich mit diversen Auf- und Umräumtätigkeiten und nahm allerlei Anstreich- und Pflanzaktionen in Angriff, kurzum sie
fourgeonnait,
sie brasselte herum.
Fourgeonner
ist ein in meiner Familie sehr geläufiger Ausdruck, ich weiß nicht, woher er kommt, aber er bedeutet: mehrere Tätigkeiten anfangen, aber nichts mit ganzer Kraft, oder aber mit viel Hektik wenig schaffen. Lucile
brasselte
also
herum,
und das war eine sehr gute Nachricht: Sie hatte genug Energie, um einen Teil davon verschwenden zu können.
     
    Man musste gesehen haben, wie Lucile zu den Stoßzeiten in die Metro stieg, wie sie den einzigen freien Sitz oder Klappsitz in Besitz nahm, als stünde er ihr ohne weiteres oder aufgrund eines nur ihr bekannten Flüchtlingsstatus zu.
     
    Man musste gesehen haben, wie Lucile über die Straße ging, so energisch und zugleich so unsicher, mit vorgeneigtem Oberkörper, die Handtasche an die Hüfte gepresst, ihre Art, die Menge zu durchschneiden, geradewegs aufs Ziel zuzugehen, ihr Bulldozergehabe.
    Man musste gesehen haben, wie Lucile in einer dichten Kino- oder Kassenschlange die Ellbogen einsetzte und mit einem Blick jeden entmutigte, der sie womöglich zu überholen versuchte oder das Pech gehabt hatte, traumverloren den Fuß ein paar Zentimeter zu weit in das zu setzen, was sie als ihr Territorium betrachtete.
    Man musste gesehen haben, wie Lucile, auf einer Wiese im Park liegend oder auf einer Bank sitzend, das Gesicht der Sonne darbot, man musste die Freude und Entspannung gesehen haben, die sie dann empfand.
     
    Eines Samstagmittags bekam ich einen Anruf von meiner Mutter, sie hatte sich gerade mit einer Freundin auf der Metro-Station République getroffen, und nun war ihr eingefallen, dass sie Wasser zum Kochen auf dem Gasherd aufgesetzt hatte. Ob ich bitte alles stehen und liegen lassen und zu ihrer Wohnung rennen würde? Ich war noch erschöpft von einer aufreibenden Woche und geriet fürchterlich in Wut: »Du nervst, du nervst mich vielleicht, ehrlich, du gehst mir so was von auf den Senkel, du tust, als hätte ich sonst nichts zu tun!« (Ich habe es ausführlich in meinem Tagebuch beschrieben.) Ich empfand eine gewisse Erleichterung, nahm den Schlüssel, den Lucile bei mir hinterlegt hatte, und ging hin, um das Gas auszudrehen.
    Da Lucile nun etwas aushielt, sich wappnete und Widerstand leistete, war es uns

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