Das Lächeln meiner Mutter
möglich, mit ihr zu streiten, es ihr zu sagen, wenn uns etwas nicht passte, und dabei laut zu werden. Nicht dass wir ihr das während ihres langen Schweigens erspart hätten, aber da waren unsere Revolten dumpfer, erstickter (und wahrscheinlich aggressiver).
Ein anderes Mal war es Lucile, die furchtbar wütend wurde, weil ich fünf Minuten zu spät kam. Zu all unseren Verabredungen käme ich fünf oder zehn Minuten zu spät, klagte sie. Das stimmte. Es war die Rolle der Mütter, zu warten, anzurufen, sich Sorgen zu machen (ich habe lange, bewusst oder unbewusst, Lucile an den Platz zu verweisen versucht, an den sie meiner Meinung nach gehörte).
Einige Wochen danach teilte ich Lucile auf einer Parkbank auf dem Square Saint-Lambert mit, dass ich schwanger war. Sie schluchzte kurz auf und schlug die Hände vors Gesicht, um ihre Rührung zu verbergen. Dann wandte sie sich mir zu und fragte: Darf ich auf es aufpassen?
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A ls meine Tochter zur Welt kam und man mir den kleinen Körper in die Arme gab, sagte ich zu meinem großen Schrecken laut und deutlich:
»Ma puce.«
»Ma puce«, mein kleines Mädchen, nannte mich Lucile, als ich klein war, und auch noch wesentlich später, wenn sie in zärtlicher Stimmung oder das Gespräch sehr vertraut war. Vor der Geburt wusste ich nicht, ob mein Kind ein Junge oder ein Mädchen sein würde. Völlig unabhängig vom Geschlecht hatte ich mich keine Sekunde lang gefragt, mit welchem dämlichen Kosenamen ich es ausstaffieren würde,
mein kleiner Schatz, mein Süßes, mein Häschen, mein Herz, mein Mäuschen, mein Püppchen, mein Schatz, mein Engel.
Mein Baby war ein Mädchen, und meine ersten Worte waren: »Ma puce.«
Seit meinem vierzehnten Lebensjahr war es eine meiner Hauptsorgen, dass ich meiner Mutter gleichen könnte. Ich wollte Lucile in nichts ähnlich sein, weder körperlich noch psychisch, und empfand jeden flüchtig hingeworfenen Vergleich als Beleidigung. Tatsächlich war die Ähnlichkeit, die mein Vater manchmal zwischen Lucile und mir hervorhob (und die er als Einziger sah, denn körperlich gleiche ich vor allem ihm), kein Kompliment.
Jahrelang hatte ich mich vor anderen für meine Mutter geschämt und dafür, dass ich mich schämte. Jahrelang hatte ich versucht, mir eigene Gesten, ein eigenes Verhalten zuzulegen und mich von dem Gespenst, das sie in meinen Augen war, zu entfernen. Selbst jetzt, wo es ihr besserging, wollte ich ihr genauso wenig gleichen, ich wollte das genaue Gegenteil von ihr sein, ich weigerte mich, in ihre Fußstapfen zu treten, ich vermied alle Ähnlichkeiten und orientierte mich bewusst in möglichst entgegengesetzte Richtungen.
Monatelang korrigierte ich mich also ständig und gab mir große Mühe, meine Tochter mit allen möglichen lächerlichen Kosenamen zu benennen, doch schließlich kapitulierte ich. Ich nannte meine Tochter »ma puce«, so war es nun mal, und vermutlich war es ansteckend, denn auch ihr Vater nannte sie so.
Als meine Tochter einige Monate alt war, vertraute ich sie meiner Mutter an. Ich weiß nicht mehr, auf welche Weise und in welchen Begriffen ich mir diese Frage gestellt habe, nicht einmal, ob ich sie mir überhaupt gestellt habe. Lucile liebte es, meine Tochter in den Armen zu halten und sich um sie zu kümmern, sie genoss ihre Großmutterrolle. Nach und nach entwickelte es sich zur Gewohnheit, dass sie zu uns kam, um sie hüten, wenn wir abends ausgingen, und später brachten wir sie dann zu ihr.
Manon machte mir damals ihre Missbilligung deutlich: Sollte sie eines Tages ein Kind haben, würde sie es Lucile nie anvertrauen. Ich war ratlos. Ich verstand Manons Leiden, ihre vage Angst, und fragte mich, wie ich meine Entscheidung getroffen hatte: instinktiv. (Später bekam Manon zwei Töchter, Lucile hat sie oft gehütet.)
Lucile war eine einzigartige Großmutter, ich werde noch darauf zurückkommen.
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L ucile beteiligte sich zunehmend an der Organisation der Fachmesse, die von dem Kommunikations- und Marketing-Konzern veranstaltet wurde, in dem sie arbeitete. Sie kümmerte sich dabei um die Reklame-Belange. Sie erzählte uns gern von den Schwierigkeiten und Erfolgen, die sie dabei hatte, von den Streitereien mit ihrem Chef, all die winzigen Geschichten, die ihr Büroleben würzten. Lucile hat ihre Arbeit nie als Möglichkeit der Selbstverwirklichung betrachtet, und jetzt hatte die Entfremdung den Vorzug, sie abzulenken.
Nach einigen Jahren spürte sie, dass der Wind sich drehte.
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