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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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wichtigen Störfaktor, den es für mich bedeutet, nicht übersehen. Das Schreiben entblößt mich, zerstört meine Schutzwälle einen nach dem anderen, löst stillschweigend meinen eigenen Sicherheitsbereich auf. Musste ich mich erst glücklich, stark und zuversichtlich fühlen, um mich in ein solches Abenteuer zu stürzen? Musste ich das Gefühl haben, ich hätte
Spielraum,
um meine Widerstandsfähigkeit – als wäre das noch nötig – derart auf die Probe zu stellen?
    Je weiter ich vorankomme, desto mehr sehne ich mich danach, in die Gegenwart zurückzukehren, größeren Abstand zu haben, die Dinge wieder an ihren Platz, in ihre Mappe, in ihren Karton zu räumen und das wieder in den Keller zu bringen, was dorthin gehört.
     
    Bis dahin wäge ich jedes Wort ab, kehre ich unablässig zurück, korrigiere, präzisiere, nuanciere, verwerfe ich. Das bezeichne ich als meinen
Kehrwagen,
er hat mir bei allen meinen Büchern gute Dienste geleistet und ist mir ein wertvoller Bundesgenosse. Doch diesmal frage ich mich, ob er nicht seine Richtung verloren hat. Ich sehe, wie er sich in vergeblichen konzentrischen Kreisen dreht, nachts befallen mich Zweifel, ich schrecke um vier Uhr morgens aus dem Schlaf, ich beschließe aufzugeben, bremse mit beiden Füßen, oder ich frage mich ganz im Gegenteil, ob ich die Bewegung nicht beschleunigen, viel Wein trinken und tonnenweise Zigaretten rauchen sollte, ob dieses Buch nicht in drängender Hast, Bewusstlosigkeit und Verleugnung geschrieben werden muss.
     
    Luciles Phantasievorstellungen sind mir, obwohl ich die Hauptmotive (Macht und Kontrolle, übernatürliche Fähigkeiten, Geld in Hülle und Fülle, die Möglichkeit, uns mit Geschenken zu überhäufen) festgehalten habe, nach wie vor rätselhaft.
    Es ist auch das, diese geistige Störung, wie Barbara sie beschrieb: »dieses geysirartige Aufschießen eines schüchternen oder lange unterdrückten Protests und dieser plötzliche und heftige Ausdruck einer Weigerung, sich künftig manipulieren oder zerstören zu lassen, die sich in einer für normale Ohren unerträglichen Tonverschiebung und Stimmhöhe ausdrücken«.
     
    Ich hatte gehofft, das Schreiben würde mir zu hören geben, was mir entgangen war, diese für
normale Ohren
unverständlichen Ultraschalltöne, als könnten mir das stundenlange Wühlen in Kartons oder das Sitzen am Computer endlich ein besonderes, sensibleres Gehör schenken, wie es manche Tiere und, glaube ich, die Hunde besitzen. Ich bin nicht sicher, dass mir das Schreiben ermöglichen wird, über eine Feststellung des Scheiterns hinauszugehen. Die Schwierigkeit, die ich empfinde, wenn ich von Lucile erzähle, ist der Verstörung, die wir als Kinder und Jugendliche empfanden, wenn Lucile verschwand, gar nicht so unähnlich.
    Ich bin in derselben Wartehaltung, ich weiß nicht, wo sie ist, was sie anstellt, auch jetzt entziehen sich diese Stunden dem Erzähltwerden, und ich kann nur das Ausmaß des Rätsels ermessen.

[home]
    Dritter Teil
    W ährend ihres letzten Aufenthalts in der Klinik Saint-Anne, inmitten ihrer vernichteten Träume und der Überreste der Wahnphase, die endlich nachließ, teilte Lucile Dr. G. mit, wie erschöpft sie war. Sie wollte nicht in das Schweigen zurückkehren, in die Leere eines von seinen Empfindungen abgeschnittenen Körpers, sie wollte im Spiegel nicht mehr ihr alters- und emotionsloses Gesicht sehen. Wenn sie die Wahl habe, wolle sie lieber sterben.
    Dr. G. hörte Luciles fast erloschene Stimme und stellte die Behandlung radikal um. Noch lange bewunderte Lucile diese Frau und rühmte ihre Intelligenz und Kultiviertheit, Dr. G. war imstande, das Ausmaß von Luciles innerem Unheil genau zu erkennen und alles in Frage zu stellen.
    Dr. G. behandelte sie mehrere Jahre, sie war Lucile eine Gesprächspartnerin von Format, sie war ihren Ängsten und verrückten Einfällen gewachsen und begleitete Schritt für Schritt Luciles Rückkehr ins Leben.
     
    So kam Lucile nach zehn Jahren Sumpf von weit her, von allem zurück und ließ die Stunden, die sie bei den Schatten verbracht hatte, hinter sich.
    Lucile, die nie am Seil hatte hochklettern können, zog sich aus der Tiefe, und niemand wusste eigentlich, wie, dank welchem Schwung, welcher Energie, welchem letzten instinktiven Lebenswillen.
    Es war ein Kampf, ein langes, schrittweises Auftauchen zurück ans Licht, eine unglaubliche Leistung, eine spektakuläre Lektion im Leben, es war eine Wiedergeburt.
     
    Nach der Entlassung aus dem

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