Das Lächeln meiner Mutter
Es gab Gerüchte über große Personaleinsparungen, ja, man stehe sogar kurz vor einem Sozialplan. Lucile war neunundvierzig, ihr Englisch stark ausbaufähig, und den Umgang mit der Datenverarbeitung beherrschte sie keineswegs so meisterhaft, wie ihre phantasievollen Erzählungen vermuten ließen. Abgesehen von einem veralteten Diplom in Maschineschreiben hatte sie keinerlei Qualifikation, sie hatte die Schule vor dem Abitur verlassen, und die wenigen beruflichen Fortbildungen, die sie hatte mitmachen können, waren längst überholt. Dieses Mal kam sie den anderen zuvor. Sie legte, und zwar ohne Probleme, eine Prüfung ab, die dem Abitur entsprach, und meldete sich für die Aufnahmeprüfungen mehrerer Fachhochschulen für Sozialarbeit an. Sie bestand die schriftlichen Prüfungen und bat uns dann, ihr bei der Vorbereitung auf die mündlichen Prüfungen zu helfen. Luciles Prüfungsangst war ein großes Handicap. Manon und ich brachten einige Nachmittage mit dem Versuch zu, die Dinge zu entdramatisieren und die anstehenden Prüfungsgespräche mit ihr zu üben. Die beiden ersten mündlichen Prüfungen verliefen katastrophal, die dritte bestand sie, was ihr die Pforten einer Fachhochschule im 18 . Arrondissement öffnete. Dann überlegte Lucile, welche Möglichkeiten es gab, ihren Lebensunterhalt während der dreijährigen Ausbildungszeit zu finanzieren. Da ihr kein Bildungsurlaub genehmigt wurde, handelte sie im Vorgriff die betriebsbedingte Kündigung aus, die ihr ohnehin über kurz oder lang drohte, was ihr zunächst für zwei Jahre, aber keinen Tag länger, ein Arbeitslosengeld sicherte.
Lucile wollte einen neuen Beruf, sie beschloss, erst einmal mit der Ausbildung, für die sie sich entschieden hatte, anzufangen und auf den Zufall zu hoffen. Sie würde dann schon sehen.
Nach den Sommerferien steckte Lucile Hefte und Stifte in eine Studentenmappe und ging in die École normale sociale in der Rue de Torcy.
Wir staunten Bauklötze.
Die meisten Studenten in ihrer Klasse hatten ein Jahr Hochschulstudium oder eine Licence hinter sich, einige hatten sogar gerade erst ihr Abitur gemacht. Dennoch schloss Lucile bald einige Freundschaften und schuf sich eine kleine, bunt zusammengewürfelte Clique, mit der auch wir manchmal in Kontakt kamen.
Sie hatte kein Geld, gerade genug zum Leben und um hin und wieder etwas trinken zu gehen. Lucile war eine ängstliche, strebsame Schülerin und davon überzeugt, sie sei unfähig, ihr Denken zu strukturieren und zu ordnen. Ihre Noten straften diese Anfangsüberzeugung Lügen, Lucile kam sehr gut zurecht.
An einem Samstag im Juli 1997 stieg Lucile auf ihr Fahrrad und fuhr spazieren. Auf einer Straße im 15 . Arrondissement stand sie plötzlich Nébo gegenüber. Der Geliebte, dem sie so sehr nachgetrauert hatte, radelte in die Gegenrichtung. Sein schwarzes Haar war grau geworden, doch seine Augen waren dieselben geblieben: grün und durchdringend.
Sie hatten sich über zwanzig Jahre nicht mehr gesehen, aber sich sofort erkannt.
Einige Monate lang versuchten Lucile und Nébo auszuloten, welche Bedeutung diese Wiederbegegnung hatte. Für Lucile ging es um Liebe, worum es für Nébo ging, weiß ich nicht. Lucile unterstrich die Zeichen ihrer wiedergefundenen Weiblichkeit, trug Röcke und Parfüm und legte noch mehr Lippenstift auf, zum ersten Mal in ihrem Leben zog sie zum Geschirrspülen Handschuhe an (der zurückeroberte Geliebte fand, ihre Hände sähen strapaziert aus). Sie gingen in Ausstellungen, machten Spaziergänge und Radtouren, fuhren in den Schulferien für ein paar Tage nach Chamonix und führten stundenlange Gespräche.
Später sagte Lucile zu Manon, Nébo sei für sie der Mann des Wortes gewesen, ihm hätte sie ihre innersten Schmerzen anvertraut.
Im dritten Ausbildungsjahr erreichte Lucile das Ende ihres Arbeitslosengelds und unternahm dann die nötigen Schritte, um das Mindesteingliederungsgeld zu erhalten. Trotz des Geldes, das sie zu sparen versucht hatte, konnte sie die Miete für die Wohnung in der Rue des Entrepreneurs nicht mehr aufbringen und musste bald umziehen. In der Nähe ihrer Schule fand sie ein kleines Dienstbotenzimmer, dunkel und alles andere als komfortabel. Am Ende des Schuljahrs verfasste sie ihre Abschlussarbeit für das Diplom. Sie saß ganze Tage daran und brachte schließlich etwa fünfzig Seiten zusammen (»Der Mindesteingliederungsgeld-Vertrag – hin zu einer Pädagogik des Verhandelns«), die wir lesen, kommentieren und
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