Das Lächeln meiner Mutter
Zuneigung zur ersten Frau bewahrt, was die Zuneigung zur zweiten jedoch nicht schmälerte –, hätte Georges nicht seinen Hass und Groll auf die Anwesenheit der Nicht-Eingeladenen konzentriert.
Die Spannung steigerte sich langsam, und Georges verließ schließlich den Tisch, nachdem er alle Anwesenden mit einem der scharfen Sätze, wie nur er sie zu formulieren verstand, gestraft hatte.
Und da brach Liane, die ich mein ganzes Leben noch nie hatte weinen sehen, in Schluchzen aus. Sie schlug die Hände vor das Gesicht, und durch eine verblüffend rasche Ansteckung, wie beim Umfallen aufgereihter Dominosteine, fingen alle oder fast alle am Tisch zu weinen an.
Und dann nahm Liane die Hände von ihrem unglaublich glatten, leuchtenden Gesicht, schenkte uns ihr schönstes Lächeln und sagte:
»Es ist nichts, es ist schon vorbei.«
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A us meiner heutigen Sicht scheint mir, dass in den Neunzigern die Lucile des Neuanfangs aus der Asche stieg, die des
Nachher,
diejenige, die einige ihrer Freunde kennengelernt haben, ohne je zu erfahren, was sie durchgemacht hatte, die, die unsere Erwachsenenleben prägte und die unsere Kinder kannten.
Ich kenne die genaue Verbindung zwischen dieser Person und der, die sie
vorher
war, nicht. Ich kann diese Bilder nicht mit denen in Deckung bringen, die ich aus der Kindheit bewahrt habe, mit dem leichten Gelbstich, mit dem ich sie sehe, sind sie völlig von ihnen getrennt.
Doch das ist nicht wichtig. Lucile war über vierzig, sie war wieder eine schöne, gutaussehende Frau, eine Frau, deren Blick immer noch beeindruckte, die vermuten ließ, dass sie noch schöner gewesen war, was nichts mit dem Alter zu tun hatte, sondern mit einer Bruchlinie. Wer immer Lucile zum ersten Mal sah, nahm zugleich mit ihrer Schönheit auch die untilgbare Spur eines Absturzes wahr. Lucile ging über ein Seil, graziös, einen Hauch provokant und ohne Netz.
Lucile hatte Marotten, Phobien, Anfälle von Streit- und Unlust, liebte seltsame Aussprüche – die sie selbst nicht immer ernst nahm –, sprang von einem Thema zum anderen und wieder zurück, plagte sich mit Sorgen, stichelte und ging an Grenzen, sie spielte mit dem Feuer. Lucile schwamm gern gegen den Strom und trat mit Vorliebe in Fettnäpfchen, sie wusste, dass sie unter Beobachtung stand, manchmal forderte sie unseren Blick heraus, erschreckte uns zum Spaß und verschaffte ihrer Einzigartigkeit Geltung.
Lucile mochte keine Menschenmengen, Großveranstaltungen, keine gesellschaftlichen Anlässe, große Tischrunden, sie wich solchen Gelegenheiten aus. Sie ließ andere nur unter vier Augen, im kleinen Kreis oder während eines Spaziergangs, in der Bewegung des Gehens, an sich heran. Sie blieb immer diskret, was ihre Gefühle anging, das Privateste behielt sie für sich, nur wenige erfuhren etwas über ihre tieferen Gedanken. Sie war eine seltsame Mischung aus krankhafter Scheu und Selbstbehauptung.
Wir mussten lernen, ihr zu vertrauen und keine Angst mehr vor einem Rückfall zu haben. Wir mussten lernen, über ihre Fehdehandschuhe, ihre Ticks und Einfälle zu lächeln, ihre misstrauischen Überlegungen zu hören, ihre Hirngespinste zu respektieren, ohne sie gleich im Verdacht zu haben, sie sei schon wieder in gefährlicher Schieflage oder bereits gekippt. Lucile lernte, mit ihren Grenzen zu flirten, sie besser zu kennen, es selbst zu merken, wenn sie sich von der Traurigkeit übermannen ließ oder ganz im Gegenteil von einer zu sprudelnden Lebhaftigkeit, und wieder zu Dr. G. zu gehen, wenn sie sich gefährdet fühlte.
In jenen Jahren zog Manon bei Lucile aus, um an verschiedenen Orten zu wohnen und nach ihrem eigenen Weg zu suchen, der seine ganz eigenen Biegungen haben würde.
Ich fing an zu arbeiten, ich lernte den Vater meiner Kinder kennen, ich zog mit ihm zusammen, ich formte mich an seiner Seite, ich liebte ihn leidenschaftlich und erlebte ein intensives Glück.
Manon und ich wurden erwachsen, von Luciles Liebe gestärkt und geschwächt von der zu frühen Erfahrung, dass das Leben ohne Vorwarnung kippen kann und dass dann ringsum nichts mehr wirklich stabil ist.
Lucile verfolgte unsere Lebenswege auf ihre Weise, sie lud uns zum Abendessen ein und besuchte uns auf ihren Wochenendspaziergängen. Lucile hat nie zu diesen besitzergreifenden Müttern gehört, die jeden zweiten Tag anrufen und bis ins Kleinste auf dem Laufenden gehalten werden wollen. Mit Manon und mit mir ging sie gern
einen trinken
oder ohne bestimmtes
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